The Project Gutenberg EBook of Briefe, Aufzeichnungen und Aphorismen.
Erster Band, by Franz Marc

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Title: Briefe, Aufzeichnungen und Aphorismen. Erster Band

Author: Franz Marc

Release Date: December 31, 2016 [EBook #53845]

Language: German

Character set encoding: ISO-8859-1

*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK BRIEFE, AUFZEICHNUNGEN, ERSTER BAND ***




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Franz Marc / Briefe

Franz Marc

Briefe, Aufzeichnungen und Aphorismen

Erster Band

1920
Verlegt bei Paul Cassirer in Berlin

Alle Rechte vorbehalten
Copyright 1920 by Paul Cassirer Berlin

Elsaß/Rothau, 1. Sept. 14
Herbst

L....,

habe heute die erste Wache abgehalten, mit 18 Posten; es war sehr stimmungsvoll, wunderbar herbstliche Sternennacht. Wie ist das alles anders als dieser langweilige Garnisondienst! Der schwarze Kaffee in der Feldflasche thut mir jetzt gute Dienste. Ich spare ihn so lange als möglich. Die Gegend ist arg von Schlachten mitgenommen, die Bevölkerung äußerst scheu; ich habe keinen Zweifel, daß sie sehr franzosenfreundlich ist. Ich möchte hier nicht leben. Gefahren sehe ich aber keine; es ist offenbar alles sehr eingeschüchtert. Voraussichtliche Richtung Saales; wir warten aber noch auf Befehle. Ich fühle mich so vollkommen wohl, daß mir vor den kommenden Strapazen nicht Angst ist. Zu essen gibt es nur Kommißbrot aus Feldbäckereien. Ich verlange mir auch nichts anderes und spare meinen eisernen Bestand, den ich noch in München gekauft, auf viel spätere Zeiten; wer weiß, wohin wir noch geschoben werden; ich hoffe immer noch auf Belfort über Épinal.

Gruß Euch beiden, N’s — — — — —

In Sâles, 2. Sept. Nachm.

Ihr Lieben in Ried, heute hab ich meinen ersten großen Melderitt (30 Klm) gemacht; ich bin jetzt glücklich das, was ich wollte, nämlich so etwas wie Adjutant der ganzen Kolonne mit Leutnant * * * zusammen (der Regierungsbaumeister in W. ist und Sindelsdorf genau kennt!). Wir ritten nach Frankreich hinein bis Remomeix (vor Dié), vor uns eine riesige Feuerlinie von deutscher Fußartillerie, die über einen Berg nach Westen schießt, und selbst von französischen Batterien, die hinter dem Berg stehen, beschossen werden. Auf der Heeresstraße Saales-Dié ein unglaubliches Kriegstreiben; ich fühl mich so wohl dabei, wie wenn ich immer Soldat gewesen wäre; Obst stehlen wir von den Bäumen; Wein haben wir auf unserm Ritt auch bekommen; in Sâles gibt es gar nichts mehr. Wir hatten mit Meldungen an den Brigadestab zu reiten. Jetzt am Nachmittag sitz ich geruhig vor dem Telephonamt (in einem kl. Hotel installiert) am Marktplatz um Befehle aufzunehmen, die ev. kommen. Man ruft mich dazu in’s Amt herein. So kann ich gemächlich ein paar Ruhestunden das originelle Treiben auf dem Marktplatz in Sâles beobachten; „Wallensteins Lager“, aber in echt. Unsre weitere Marschrichtung hängt von den Befehlen ab, die ich hier am Telephon aufzunehmen habe. Wir kochen alles selber, auf dem Acker draußen, auf dem wir biwakieren.

Schreibt Euch mal vorläufig auf, was Ihr mir später senden müßt u. s. f. — — — — — —

6. Sept. 14.
La croix aux mines
bei Laveline

Gestern bin ich zum Befehlholen zum Divisionsstab kommandiert worden und schließlich um ½3 Uhr zum Schlaf gekommen, auf einer offenen Wiese, in meinen großen Mantel gehüllt, das Regencape unter mir. Um ½5 Reveille, das wird nun oft vorkommen. Der Körper gewöhnt sich vor allem, den kurzen, ganz traumlosen Schlaf, auf’s allermöglichste auszunutzen. Im Kriegsdienst lernt man diese Kräfteökonomie. Heute fuhren wir wieder in die Gefechtsstellung. Die Franzosen sind aber tatsächlich wieder etwas zurückgewichen; wo wir stehen, gilt als die hartnäckigste Stellung des ganzen Krieges. Die Deutschen kommen nur ganz ganz langsam vorwärts, mit entsetzlichen Verlusten; aber es geht! Der Leichengeruch auf viele Kilometer im Umkreis ist das Entsetzlichste. Ich kann ihn weniger vertragen als tote Menschen und Pferde sehen. Diese Artilleriekämpfe haben etwas unsagbar Imposantes und Mystisches. Ich bin körperlich sehr wohl, der Rotwein hält meinen Magen zusammen. Rheumatismus kenne ich nicht mehr.

— — —
— Fz.

10. Sept. 14.

p. L. Eben las ich an diesem stillen Tage L’histoire des Girondins (Lamartine), das ich hier vorfand, als plötzlich Alarm zum Aufbruch kam; schneller Abschied von unserem Zimmerchen! Richtung unbestimmt.

11. Sept. Früh.

L. M.

gestern schloß ich meine Karte mit der Nachricht von plötzlichem Alarm. Der bedeutete offenbar den Schluß des 1. Kapitels meines Feldzuges. Sämtliche Truppen sind aus dem verdammten Vogesenwinkel Laveline-La croix (Col du Bonhomme) im Laufe von 4 Stunden verschwunden. Ihr könnt Euch das Bild auf den Heeresstraßen (Richtung Saales) ausmalen!!! Ich wurde zu Meldungen an die Division abgesandt und ritt dann bis 1 Uhr Nacht im Lande umher, ohne meine Truppe wiederzufinden. Es war wunderschön! Klare Mondnacht! So schlief ich in Colroy in einem Stall (Heuboden) auf Heu und versorgte mein müdes Pferd. Beim Aufwachen glaubte ich auf der Staffelalm zu sein, da ich vom Geräusch von Kuhmelken und Kuhbrüllen aufwachte, bis ich entdeckte, daß ich im europäischen Krieg in Frankreich sei! Jetzt reite ich wieder los, meine Truppe zu finden. Sie kann kaum weit von Colroy sein. Schickt jetzt natürlich nichts, bei diesen Truppenbewegungen kann kaum was ankommen.

Grube, Samstag, 12. Sept. 14.

L....,

Freitag Mittag hab ich glücklich meine Truppe wieder gefunden; das Heeresgewirr, durch das ich mich durchgearbeitet habe, hättet Ihr sehen sollen. Das kann man nur erleben, aber nicht sich vorstellen. Und jetzt sind wir schon wieder in Deutschland! (wenigstens die Kolonnen). Wir zogen von Lubine über den berühmten Vogesenpaß, den Napoleon von St. Dié nach Urbais 1854 anlegen ließ (nicht unähnlich dem Kesselberg), ein prachtvoller Übergang. Auf der Grenze trafen wir die Zerstörungs- und Verteidigungsreste erbitterter Grenzgefechte vom Anfang des Krieges. Wir gingen über Urbais hinaus bis Grube zurück; hier machte ich den Quartiermeister (da man fast nur französisch sprechend von den Elsässern was erreichen kann (!!). Ich habe dabei für mich nicht schlecht gesorgt, ein reizendes Zimmerchen, famoses Bett, durchgeschlafen von 8 h bis 6 h, Waschgelegenheit, Frühstückskaffee, usw. Man wird ganz kindisch im Genuß solcher — Selbstverständlichkeiten — d’autrefois. Ob wir nun nach Schlettstadt-Belfort kommen, oder allmählich wieder über den Paß nach Frankreich vorgehen, ist bis jetzt nicht zu ermitteln. Ich wollt, wir blieben einmal ein paar Tage hier. Ich bin gestern 18 Stunden geritten! Wie geht es wohl Dir, liebe Maman und Dir, Maria und den Tieren und dem Garten? Spielst Du viel auf dem Flügel? Was machen unsre Äpfelchen?

Grube (bei Schlettstadt), 12. IX. 1914.

L.... M....,

heute versuche ich mal, ein Briefchen zu schreiben;

— — — — —

Ich denke so viel über diesen Krieg nach und komme zu keinem Resultat; wahrscheinlich, weil die „Ereignisse“ mir den Horizont versperren. Man kommt nicht über die „Aktion“ hinweg, um den Geist der Dinge zu sehen. Jedenfalls aber macht der Krieg aus mir keinen Naturalisten, — im Gegenteil: ich fühle den Geist, der hinter den Schlachten, hinter jeder Kugel schwebt so stark, daß das Realistische, Materielle ganz verschwindet. Schlachten, Verwundungen, Bewegungen wirken alle so mystisch, unwirklich, als ob sie etwas ganz anderes bedeuteten, als ihre Namen sagen; nur ist alles noch von einer grauenvollen Stummheit, chiffriert, — oder meine Ohren sind taub, übertäubt vom Lärm, um die wahre Sprache dieser Dinge heut schon heraus zu hören. Es ist unglaublich, daß es Zeiten gab, in denen man den Krieg darstellte, durch Malen von Lagerfeuern, brennenden Dörfern, jagenden Reitern, stürzenden Pferden und Patrouillenreitern u. dergl. Dieser Gedanke erscheint mir direkt komisch, selbst wenn ich an Delacroix denke, der’s doch noch am besten gekonnt hat. Uccello ist schon besser, ägyptische Friese noch besser, — aber wir müssen es doch noch ganz anders machen, ganz anders! Wann werde ich wohl wieder malen dürfen? Ich bin froh, daß ich von den Kriegsfreiwilligen weg bin, — ich glaube doch hier in unsrer Landwehrtruppe mehr Aussicht zu haben, früher heimkehren zu dürfen als die frischen Kriegsfreiwilligen. Frühjahr wird’s wohl werden! Ich glaube an kein früheres Datum. Aber vielleicht geht’s doch noch eher! Wenn diese Engländer nur nicht alles verschlampen.

Ich mach jetzt Schluß, lebt wohl, — — — — —

22. IX. 14.

L. M., ich hab mich heute so gefreut über das Lebenszeichen von Dir, die 3 Paketchen. Mit Handschuhen bin ich jetzt gut versorgt, für Winter die blauen, für Herbst und Regen undurchlässige Fäustlinge mit langer Manschette, die mir jemand aus Straßburg mitgebracht hat. Die Kartentasche habe ich an meinen Wachtmeister für 3 M. verkauft. Stimmt der Preis ungefähr? Die ich schon habe, ist noch solider, drum behalte ich die lieber. Aber gar keinen Gruß hast Du hineingelegt! Du denkst wohl, ich habe alle Deine anderen Grüße und Briefe erhalten? Nichts, gar nichts bisher, als die 2 nebensächlichen Karten (E.’s und von Dir) vor cr. acht Tagen. Aber schön, daß die Paketchen gekommen, auch die Batterie ist mir sehr wichtig. Lampe dazu besitze ich schon. Das Wetter klärt sich heute Nachmittag auf. Ich hatte mittags einen reizenden Ritt zu machen; die Vogesen haben etwas Liebliches und Friedliches, man kann zuweilen gar nicht an den Ernst dieses grauenvollen Krieges glauben, — bis man es wieder mit eigenen Augen sieht!! Wenn Du mir von nun an was schickst, schicke nichts mehr von dem, was ich Dir angegeben (Tintenstift, Meldekarten etc. — ich werde solche Dinge selbst besorgen können), sondern was Dich freut, auch einmal ein paar anständige Zigarren, — man raucht hier furchtbares Zeug; Zigaretten schick nicht, ich rauche am liebsten die französischen, die ich hier bekomme. Aber sonst sind wir für alles äußerst empfänglich.

Bekäme ich doch bald ein Brieflein von Mama und Dir!

Aus Straßburg, 24. Sept. 14.

Liebe Maria, ich bin hier seelenvergnügt in Straßburg, die Nacht gefahren von Saales aus; ich hab mir einen Kanonier mitgenommen zum Tragen der Besorgungen. Früh 6 Uhr kamen wir an, frühstückten und gingen dann zum Münster und bummelten durch die reizende Stadt. Ich kam mir so merkwürdig vor, es war wieder alles wie im Traum. Jetzt sitz ich in einem „Löwenbräu-Ausschank“ und esse mich an großen Butterbroden und Käse satt. Alles ist so friedlich, als wenn ich im „Roten Hahn“ in München säße — und draußen diese entsetzlichen Kämpfe! Ich kann mir kaum vorstellen, daß es wieder Zeiten geben wird, in denen man ohne Revolver ausgeht und die nächsten Höhen nicht mehr nach feindlichen Batterien oder Fantassins absuchen muß, ehe man seine Kolonne in Deckung fährt. Der gegenüberstehende Feind ist uns einfach eine Selbstverständlichkeit geworden!

Straßburg finde ich reizend, man fühlt sich ganz in einer uralten Stadt; im Münster machten die wunderbaren Glasfenster den stärksten Eindruck; Kandinsky reicht sehr nahe an diese Kunst heran, steht ihr sogar merkwürdig nahe; ich war ganz betroffen. Ich kann Dir gar nicht sagen, wie ich mich aufs Malen freue.

Sei du und Maman herzlich umarmt von

Eurem Fz.

Streichle Russi und die Rehe von mir.

Lubine, 30. Sept. 14.

Liebe Maria,

heut sitz ich, matt wie eine Fliege, in der schönen Herbstsonne vor der Thüre (nur leider nicht meines Hauses und nicht neben Euch!!). Meine Darmgeschichte ist recht übel. Durch eine Hungerkur von 48 Stunden (nur drei weiche Eier und paar Löffel Haferflocken) hab ich mich glaube ich etwas gebessert, aber man wird schwach wie ein Kind davon. Der Arzt ist gestern nicht mehr gekommen; ich erwarte ihn jetzt. Sobald man sich nicht ganz wohl fühlt, erscheint einem der Krieg doppelt furchtbar und elend. Gestern traf hier bayrischer Landsturm ein, Männer mit grauen Bärten; nachts mußten sie schon Schützengräben graben, heut seh ich sie den Berg bei Lubine ersteigen, auf dem sich bewaffnete Zivilisten gezeigt haben! Diese alten Leute kämpfen zu sehen, ist schon traurig. Wieviel gesunde Männer mögt Ihr wohl noch in Deutschland haben! Wir halten uns hier nur mit Mühe; wir sind zur reinen Grenzschutztruppe umgewandelt; ob wir uns dauernd auf französischem Boden werden halten können, erscheint mir sehr zweifelhaft. Unsre meisten Pferde sind ungefähr im selben Zustand wie ich heute, matt und arbeitsuntüchtig. Heute habe ich auch keine andere Sehnsucht als Du, Maria; neben Dir in meiner Loggia in der Herbstsonne sitzen, die roten Blätter vom wilden Wein sehen und saftiges Obst essen, Badewanne und ein reines Bett. Man ist hier natürlich überall von den miserabelsten Gerüchen umgeben und kommt im Dreck halb um; das alles empfindet man dreifach, wenn man tagsüber zu Hause bleibt und sich krank fühlt.

Ich wollte eigentlich keinen Klagebrief schreiben, aber ich glaube, ich bin zu müde, um was Vernünftigeres zu berichten. Sorgen braucht Ihr Euch deswegen gar nicht um mich. Die Magengeschichte ist gar nicht kompliziert, ich hab kein Kopfweh, es geht kein Blut ab; ich hab auch keine Krämpfe, vielleicht ein bißchen Fieber, da ich beständig Durst habe und ihn natürlich mit nichts löschen darf. — Also Saales brennt an allen Ecken! Die Post holen wir jetzt in Bowy-Bruche. Alles muß nachts gemacht werden oder auf riesigen Umwegen, um unsre Stellungen nicht zu verraten und der Beschießung durch französische Fußartillerie zu entgehen.

Wo die kronprinzliche Armee steht, ist uns ganz schleierhaft. Es heißt immer, sie drücke auf St. Dié und Épinal herunter, um den uns hier bedrängenden französischen Korps den Rückzug abzuschneiden, aber aus alledem scheint nichts zu werden, ebensowenig als aus der raschen Entscheidung vor Paris. Wie lange mag das noch dauern! — Meine Lektüre sind hier alte französische Journale (Juli 14, ohne die leiseste Vorahnung des Krieges; — es ist tragisch, an das ahnungslose schöne Paris von damals zu denken und jetzt nach zwei Monaten!) dann fand ich Teile von Eugénie Grandet von Balzac, das ich wieder mit Vergnügen lese. —

So verlebt, verträumt man seinen Herbst, fern von dem Herbst, den man sich vorgestellt und der uns eigentlich gehört. Wie schön muß mein Herbst in Ried sein! Ich freu mich heut schon auf das nächste Jahr! Ich verzweifle schon Weihnachten heimzukommen, ich glaub es nicht.

Ist die Hanni wieder ausgerissen?

— — —

Meine nächsten Nachrichten werden wieder heiterer werden, auch wohl interessanter, sobald ich wieder gesund bin.

2. Okt. 14.

L. M., man hat mich heute dem Garnisonslazarett überwiesen, wo ich in sorgfältige Behandlung kommen soll. Meine neue Adresse ist also nicht mehr Jägerkaserne, sondern Schlettstadt, Garnisonslazarett, Zimmer 9. Es war ganz nett, daß ich gestern in dem originellen Städtchen (noch viel mehr die Stadt „Perle“ als Insterburg) noch herumbummelte; aber ich fühlte mich nachts wieder so schlecht, daß ich mich heute einfach selbständig ins Garnisonslazarett begab und mich dem Oberstabsarzt vorstellte. Denn in der Jägerkaserne kümmerte sich kaum jemand um mich, ich hätte mich dort unbekümmert erholen können, aber ohne rechte Aufsicht und Krankenkost. Hier bin ich in einem richtigen Krankenhaus unter beständiger Aufsicht. Wollen sehen, wie lange es dauert. Um wieder hinauszugehen, muß ich mich ganz gesund fühlen, sonst thu ich es nicht. Seid nun jedenfalls ganz beruhigt über meine Pflege und Wohlergehen; es wird schon auch bald wieder besser gehen. Der schöne Herbsttag! Morgens war Nebel, dann glänzte auf einmal der Herbsttag auf. Essen meine Rehkinder auch Kastanien? Hier liegen alle Wege voll. In den Frostnächten springen sie auf und fallen ab.

4. Okt. Sonntag.

Eben besucht mich der Radfahrer meiner Kolonne, bringt ein Paketchen Zigarren und Schokolade von K. und eine Karte von Tante J. und meldet, daß unsre Kolonne heute hier verladen wird, nach dem Norden!!! (näheres Ziel unbekannt.) Ich war ganz baff. Nun jedenfalls Ade Vogesen, was wir dort erlebt haben, vergißt keiner, aber froh ist glaub ich jeder, daß er von da wegkommt; man freut sich immer auf das Neue! Nun sind es gerade 5 Wochen, seit dem Abmarsch in München! Die Reise wird lustig, bis ich meine Truppe wieder finde. Das ist nämlich nicht so einfach, als sich der Laie das vorstellt. Ich fühle mich heute im Magen um vieles besser; ich glaube, die Krise ist überwunden und ich habe kein chronisches Leiden zu befürchten, ein Gedanke, der mir gräßlich wäre.

Die Pulswärmer von Mutter sind leider bis jetzt nicht angekommen.

Also jedenfalls ist des großen Krieges erster Teil für mich abgelaufen und ein neues Kapitel wird nach meiner Entlassung aus dem Lazarett beginnen.

8. Okt. 14.

L...., mein Erholungsurlaub bleibt Schlettstadt, was mir auch ganz recht ist. Ich bummle den ganzen Tag in diesem unglaublichen Städtchen; ich fühle mich unendlich wohl und sinne über vieles nach, was jetzt allmählich aus mir herauskommt. Ich glaube, meine Gedanken werden, auch wenn ich wieder draußen bin, nicht mehr abreißen; ich werde „hinter der Front“ arbeiten; das bißchen Schreiben und die Ruhe haben mir gut gethan; was ich jetzt schreibe, wird sehr ernsthaft und von größerem Stil; vielleicht komme ich statt mit dem eisernen Kreuz mit einem Manuskript nach Hause. Im Kopfe werde ich es jedenfalls haben. Das Wetter ist himmlisch schön.

11. X. 14 Schlettstadt.

Meine Liebste, heut ist wieder Sonntag, — sechs Wochen bin ich nun schon fort! Wie wird es in noch einmal sechs Wochen aussehen? Mir geht es hier glänzend. Nun hab ich auch noch ein prima Restaurant entdeckt, bouc-aigle, Bock-Adler, in dem man so gut und raffiniert ißt, wie in Paris oder Brüssel; ich gehe zuweilen des Abends hin, zu einem kleinen „Nachessen, mit Rotwein“. Es ist nicht teuer, aber ein bißchen Geld kostet es natürlich immer. Das schadet aber nichts! Ebenso wirkt eine glänzende Konditorei für mein Wohlergehen! Ich sehe uns zwei schon immer hier einmal sitzen! Ich hab das Städtchen so lieb gewonnen, daß ich sicher später einmal herkomme, auf einer Reise Kolmar, Schlettstadt, Vogesenausflug, — Straßburg etc. — Paris? Vielleicht finde ich Zeit, in Straßburg jetzt nochmal heimlich Station zu machen und die Galerie zu sehen; ich hab hier diese wunderbaren Karten entdeckt.[1] Ist die verhaltene, herbe Morgen- und Auferstehungsstimmung nicht köstlich? Ich bin ganz bezaubert davon. Das Pathetische des Vorganges ist (im Gegensatz zu Grünewald, dessen berühmte Auferstehung ich nie ganz liebe, sie hat einen sentimentalen und auch rationalistischen Zug) keusch verhalten; man liest das große Ereignis zwischen den Zeilen. Das Ungesagte wird im Beschauer zum Wort. Mantegna und Bellini haben es ja noch vollkommener erreicht, als dieser Mazzola. Erinnerst Du Dich in London? Noch fabelhafter ist aber der Straßburger Meister, — ist es nicht herrlich? So empfinde ich manches von Bach, genau so wie das gemalt, — gebaut ist.

[1] Filippo Mazzola, Auferstehung — und Straßburger Meister, d. Hl. Konrad von Konstanz.

11. Okt. 14.

— Eben kommt der Stabsarzt und sagt, daß er jetzt einen Ersatz bekommt für mich und ich, wenn ich den eingearbeitet habe, abreisen könnte. Ich will noch hoffen, daß mich Euer Paketchen erreicht und auch M., dem ich sofort telegraphiere. Ich denke, ich werde am Mittwoch mein Bündel schnüren; einen Vorwand zu längerer Faulenzerei hab ich jetzt nimmer, leider! Aber ich gehe auch wieder gern weg; es ist draußen doch tausendmal schöner.

Also von nun an wieder Truppenadresse.

Schlettstadt, 13. X. 14.

Liebste,

siehst Du eigentlich auch fleißig nach dem Kriegskometen? Ich entdeckte ihn zum erstenmal, als ich nach Straßburg (von Lubine) reiste und war ganz aufgeregt, da ich nicht begreifen konnte, daß keine Zeitung ihn erwähnte. Keiner wußte auch was davon, aber jeder, dem ich ihn zeigte, mußte zugeben, daß es ein Komet sein müsse. Letzthin las ich nun doch zufällig in einer Zeitung darüber. Er scheint mir größer und klarer, als der Halleysche Komet von damals. Er steht stets in großer Nähe des Großen Bären, in den Abendstunden. Guck mal nach ihm und denk an mich!

— — — — —

Den Artikel III werde ich ganz neu schreiben, er ist nicht gut, das fühl ich selber. Ich werde das Professoren-Thema berühren, aber in ganz anderer Form und den ganzen Gedankengang erweitern. Fern liegt mir die Sache nicht, wie Du meinst; gerade über die „exakten Wissenschaften“ denke ich jetzt viel nach und brauche sie unbedingt in allen meinen neuen Gedankengängen, die ich jetzt gehe, resp. grabe wie ein Maulwurf.

Ihr tut mir wirklich aufrichtig leid, Ihr in der Heimat: denn da scheint man komplett zu spinnen; die Zeitungsausschnitte muteten mich wie schlechte Faschingsscherze an. Traurig, traurig. Was wird es für einen mühevollen Kampf dagegen geben. Wie wenig Freunde werden mir zur Seite stehen. Heute sah ich zufällig einen Atlas an, suchte mein Kochel und fand sogar Ried darauf! Mein Herz klopfte! Dann fand ich Sindelsdorf — Aidling, Riegsee — Murnau: ich erschrak, wie fern das klang!! Zeiten, in denen man friedlich zu einem Geistesgenossen wie Kandinsky über die Hügel pilgerte! und heute. Diese Gedanken sind für mich heute eigentlich das Schmerzlichste. Wenn ich auch oft unzufrieden war mit Kandinsky und nicht alles so war wie wir wollten, — heute bedeutet das für mich nichts gegenüber dem unersetzlichen Verlust. Denn ich fürchte, er wird für mich verloren sein. Er wird in Rußland bleiben und dort predigen; oder in der Schweiz, — ich selbst bin aber mehr Deutscher geworden als je. Wer bleibt noch? Wolfskehl ist ein Trostblick, aber kein Maler! August?? Du weißt, ich glaub nicht mehr daran, so lieb ich ihn habe. Das sind meine Sorgen!

Deiner Mama Brief hat mich riesig interessiert. Wie unglaublich, Hertha von der Flucht abzuhalten! Nun alles gut vorbei ist, ist’s ja gut, aber es läuft einem doch kalt über den Rücken, wenn man dran denkt! Der arme Onkel H.! Er hatte sich doch auf seinen Lebensabend gefreut! Nun sollst Du Dich, liebe Mutter, recht recht ausruhen und kräftigen nach all dem Schrecklichen, — es kommen auch wieder bessere und fröhlichere Zeiten. Bleib nur jetzt recht lang in Ried.

Seid beide herzlichst gegrüßt ....

Schlettstadt, 15. X. 14.

L...., beiliegend No. III. Mein Name kann am Anfang, unter dem Titel stehen. Ändere an Kleinigkeiten, so viel Du willst, aber das Ganze möchte ich doch gebracht wissen, auch wenn es in seinem (wahrlich milden) Angriff gegen die Professoren Widerspruch erregt. Die Sache ist symptomatisch doch ein ernster Fall und ich kann sie nicht gut heißen. Du wirst Dich wohl wundern, daß ich heute so über die „Wissenschaft“ denke, im Gegensatz zu früher. Ich fand den Ausgleich nicht zwischen moderner Wissenschaft und der Kunst, die ich im Kopf hatte. Er muß aber gefunden werden und nicht au détriment des sciences, sondern in voller Verehrung vor der europäischen exakten Wissenschaft, — sie ist das Fundament unsres Europäertums; wenn wir wirklich eine eigene Kunst haben werden, wird sie nicht in Feindschaft mit der Wissenschaft leben.

Schicke Exemplar der „Vossischen“ an Köhler (mit ein paar Worten, daß ich es im Lazarett geschrieben etc.), dann an Kubin; ich bekam heute einen sehr netten Brief von ihm. Vielleicht besucht er Dich einmal; er möchte gern, hat nur sehr wenig Geld zum Reisen. Kandinsky und Jawlensky sind in der Schweiz, Klee scheinbar auch nach Kubins Brief. Schreib mir mal Kand. Adresse, wenn Du sie erhalten kannst, vielleicht durch Klee. Schick eine Nummer an Niestlé, er schrieb mir auch heute.

Morgen geht’s wieder los! Ich freu mich recht, wieder viel zu sehen und zu erleben. Ich hätte wohl einen Tag nach Kolmar fahren können, wollte aber nicht weil ich mir es für meine Vogesenreise mit Dir aufsparen will, — ist es nicht lieb von mir? So hab ich doch etwas, was ich nicht kenne, den Clou der Reise, noch vor mir. Aber in Straßburg, wo ich Station mache, um über die Richtung meiner Truppe etwas zu erfahren (sie soll bei Metz stehen, hörte ich heute) will ich in die Galerie gehen und Memling und Kölner sehen! Ich hab das Elsaß, von dem ich jetzt scheide, sehr lieb gewonnen; der französische Einschlag macht es so traulich und graziös, auch melancholisch. Der Dialekt ist sehr komisch, aber nicht unsympathisch. Furchtbar ist mir der Dialekt der Württemberger und Schwaben, — ich kann ihn so wenig ohne Nervosität hören wie das Sächsische, während ich erst jetzt ein Ohr für die Originalität des Kölnischen bekommen habe, das ich sehr gern höre. Der Krieg ist nämlich die reine Schule für Dialekt hören. Das Bayrische wirkt auch anders als daheim, auf mich viel besser, es hat etwas würdiges, bedächtiges und ungeheuer sicheres; wenn man einen Bayer zwischen all diesen Mundarten hört, imponiert er; es liegt etwas in sich Ruhendes darin. Etwas dumm wirken Hannöveraner auf mich, während famos Ostpreußen; ich hatte längere Zeit einen Ostpreußen als Putzer. — — — — — — —

Ich warte hier jedenfalls Dein Paket ab. Im Notfall reise ich erst Freitag mittag; es wird aber wohl schon vorher kommen. — Heut saß ich genau so friedlich, nur leider ohne Dich auf einer Bank im Stadtgärtchen, wie damals mit Dir auf der Bank unter unserm Apfelbaum, ehe ich fortzog, in ähnlicher Abschiedsstimmung wie damals. Die Tage hier waren wirklich so nett, daß es für mich ein wirklicher Abschied von hier wird. Und wie kam ich hier an! Als ich aus der Bahn stieg und 100 Schritt gegangen war, setzte ich mich erschöpft auf eine Bank; ich muß doch recht elend ausgeschaut haben; zweimal kamen Leute und frugen, ob sie mir etwas bringen könnten, Limonade oder dergl! Limonade und mein Magen! Um die Leute nicht weiter zu beunruhigen, schlich ich damals weiter in die Jägerkaserne. Abends war es mir ja dann besser und ich bummelte durch das Städtchen. Aber den Gang vom Bahnhof in die Kaserne werde ich nie vergessen. Ähnlich schlecht war es mir, als ich mich andern Tages ins Garnisonslazarett schleppte. Nachher amüsiert man sich über solche Erinnerungen, die mir eigentlich erst heute wieder kommen, wo ich weggehe.

17. X. (Sonntag).

L...., bin heute bis Gorze gekommen, wo ich mir bei Kameraden ein Strohlager gesucht und gut geschlafen habe. Es herbstelt schwer, nasse Nebel. Gorze ein netter, großer Markt, kurz an der Grenze. Ich suche heute eine Fahrgelegenheit (Sanitätsauto, od. dergl.), Richtung Chamblay. Professor O. habe ich einen Kartengruß und Glückwunsch geschrieben. — Ich muß immer an August denken! Ich kann mir gar nicht vorstellen, daß ihn sein Glücksstern verläßt.

Buxières 19. X. Montag.

Heute früh fuhr ich mit Offizieren in einem Auto nach St. Bénoit-Vigneulles, von da aus mit Fouragewägen südlich bis Buxières, wo unser Div. Stab ist. Nun kann meine Truppe auch nicht mehr weit sein. Unsre ganze Stellung liegt zwischen Toul und Verdun, vor St. Mihiel, wo der Durchbruch und darauffolgende Einschließung von Verdun erfolgen soll.

In Eile!

Gorze, 17. 10. Sonntag.

Ich bleibe heute hier, werde morgen per Auto nach St. Bénoit, wo das Generalkommando ist, gebracht. Dort soll ich dann weiter Gelegenheit bekommen, meine Truppe wiederzufinden. Sie scheint nicht mehr ganz in dieser Gegend zu sein. Denn niemand weiß recht, wo sie steckt. Ich bin froh um diesen Tag hier. Es ist ein so entzückendes friedliches Dorf zwischen zwei hohen Hügeln, die ganz überzogen sind mit Gemüse- und Obstgärten, jeder Garten durch eine kleine alte Mauer vom anderen getrennt; man kann stundenlang dazwischen umherwandern. Alles ganz herbstlich, die Wälder rot. Ich muß an unser Rieder Gärtchen denken, pflanz ja in diesem Herbst und Winter ein paar Bäume und ordentlich Büsche am Zaun, Johannisbeeren etc. und Haselnuß.

Meine Gedanken bedrängen mich jetzt oft, bis zum Kopfweh. Ich denke, es ist ganz gut, wenn ich wieder mal auf ein Pferd komme. Ich freu mich jedenfalls darauf. — Oberhalb der Gärten fand ich ein kleines Kapellchen und einige Grabstätten darum. Da liegen Soldaten aus der Schlacht bei Gorze 16. August 1870, es wirkte ganz wehmütig. — Hier in Gorze liegen frische Infanterietruppen, seit acht Tagen ganz unthätig, — ein Zeichen, daß man sie vorn noch gar nicht braucht! Sie sehnen sich hinaus und dürfen nicht! Beruhigend ist diese Tatsache unbedingt, die deutsche Sache steht gut!

Hagéville, 20. X. 14.

Liebe M., heute früh bin ich endlich wieder bei meiner Truppe angelangt! Sie liegt seit 14 Tagen völlig unthätig hier; man hat für unsre Feld-Art. jetzt, wie es scheint, keine Verwendung; cr. 150 Batterien sind außer Gefecht! Mir scheint, unsre nächste Bestimmung wird sein, irgendwo (ev. Belgien) Besatzungstruppe zu werden. Unser Pferdematerial ist in trostlosem Zustand, viele von der Mannschaft auch krank; diese tollen anstrengenden ersten Wochen in den Vogesen rächen sich jetzt. Jedenfalls kannst Du beruhigt sein: wir sind jetzt weder irgend welchen Gefahren, noch besonderen Strapazen ausgesetzt. Ich bin froh darüber, — so stark und gefestigt fühle ich mich doch noch nicht; man scheint es mir auch anzusehen. Der Leutnant sagt, ich soll mich nur in jeder Weise schonen; er freute sich, daß ich wiedergekommen bin; er ist übrigens auch krank, an derselben Sache. Ich werde mich jedenfalls mit Essen und Trinken äußerst zusammennehmen und mich genau beobachten. Das Dorf ist blutarm, alles in erschreckendem Schmutz. Ich habe mein Gepäck etwas revidiert: ich bin mit Socken, Hemden etc. sehr gut versorgt; nur Knie- und Ellenbogenwärmer fehlen. Ich fand nur einen. Um solche wäre ich jedenfalls sehr dankbar. Desgl. Schokolade, gute leichte Zigarren (die Du schicktest, waren fein, nur zerbrechlich im Format) und wenn möglich etwas von Deinen Likören. — Man redet jetzt viel vom nahen Ende des französischen Krieges, Bündnis mit Frankreich und dergl. Ich glaube, es ist etwas daran. Verdun schießt seit drei Tagen nicht mehr, alles steht in einem ungewissen Warten, das doch seinen Grund haben muß. Wenn es so ist, dann ist doch denkbar, daß unsre Landwehrdivision einmal nach Hause geschickt wird! Es ist wenigstens schön, solche Hoffnungen zu nähren!

Hagéville, 23. X. 14.

Ach Liebste,

Augusts Tod ist mir so furchtbar, wie ich es innerlich verwinden und mich äußerlich dazu stellen soll, — letzteres ganz wörtlich: die nackte Thatsache will einfach nicht in meinen Kopf. Ich zitterte die letzten Tage wirklich in Angst um ihn, ich schrieb auch Lisbeth kurz. Ich fühlte in diesen Tagen, daß meine Nerven angegriffen sind, — und heute, wo ich von Dir die bestimmte Nachricht habe, ist mein Bewußtsein ganz dumpf und stumpf. Ich will wenigstens in ein paar Worten Lisbeth schreiben; zu einem Nachruf bin ich, glaub ich, in diesen Tagen nicht imstande; in einiger Zeit mache ich es sicher. Ich fühle tief, wie ich an August hing; meine künstlerischen Bedenken sind ja dabei ganz belanglos; Tagesstimmungen; der Mensch war doch tausendmal mehr und war zu allem reif, zu jedem Gedanken, mit denen ich nun allein ringen werde! Wahrscheinlich ganz allein. Gewiß hast Du mit * * * recht. Die Not des Alleinseins machte mich so optimistisch und die wirkliche Erstlingsthat, die sein Gedanken- und Bilderwerk nun einmal ist. Sicher ist mir auch, daß wir ihn menschlich und „auf gut deutsch“ mißverstehen. Er ist uns im höchsten Grade fremdrassig, nur westeuropäisch maskiert. Mit einem gleichbedeutenden Chinesengeist würden wir uns auch nie verstehen. Vielleicht war es nur einem so „fernen“ Geiste möglich, die kranke europäische Kunst so zu durchschauen. Du schreibst ja auch ganz richtig über * * * und ihn — Slaven; aber bei * * * darf man seine That nie vergessen.

— — — — — —

Grüße und streichle die Rehkinder

— — — —
— Frz.

Sonntag 25. X. 14.

Liebste, 8 Wochen! Das wunderschöne milde Herbstwetter dauert immer fort; wir leben unser friedliches Dorfleben; bis auf die fast täglichen Fliegerkämpfe über uns merken wir jetzt nicht viel vom Krieg. Das Beschießen der Flieger mit unseren Steilfeuergeschützen ist sehr interessant und aufregend; einen regelrechten Kampf von Flugzeug gegen Flugzeug hab ich noch nicht erlebt. Die Deutschen drücken den feindlichen Flieger noch von seiner Bahn ab und suchen ihn in die Batteriebereiche zu drängen.

Einiges von Eurer Post, auch ein paar Briefe scheinen wohl bestimmt verloren zu sein, und zwar beim Brand von Saales, bei dem 8 große Postsäcke nicht mehr gerettet werden konnten. Ich schrieb Euch damals, daß französische schwere Geschütze Saales plötzlich in Brand geschossen haben. Das Gleiche passierte am 21. X. hier in Buxières, wo der Div. Stab war und die Post. Es sollen 2-3 Säcke verbrannt sein. Das sind halt unvermeidliche Dinge im Krieg und man muß sich damit abfinden. Sonst kann ich speziell sehr zufrieden sein, im Gegensatz zu manchen Kameraden. Durch die Bezeichnung 1. und 4. F. A. R. soll manches in die aktiven Regimenter sich verlieren, darum lassen wir diese Bezeichnung jetzt ganz weg. Offizier- und Mannschaftspost wird vollkommen gleich behandelt. —

Ich fühle mich gleichmäßig wohl, gleichmäßig traurig. Ich verwinde Augusts Tod nicht. Wie viel ist uns allen verloren; es ist wie ein Mord; ich komme gar nicht zu dem mir sonst ganz geläufigen Soldatenbegriff des Todes vor dem Feind und für die Gesamtheit. Ich leide schrecklich darunter.

H...., 30. 10. 14.

L. M., Seit 3 Tagen stockt die Post für meinen Teil wenigstens ganz; ich bin immer unruhig über Augusts Schicksal was zu hören; wenn es Nachrichten über ihn gibt, wiederhole sie bitte des öfteren in Deinen Briefen und Karten, wenn etwas verloren geht, erfahre ich es dann beim nächsten Schreiben. Ich sandte Dir einen kleinen Nekrolog, in der guten Hoffnung, daß er umsonst geschrieben sein möge. Hier gibts nichts Neues; wir essen und leben gut. Was mir abgeht, ist vor allem etwas von Dir Gebackenes zum Thee und Kaffee; ev. einmal, wenn das Regimentspaketköfferchen kommt, etwas Eingemachtes in Blechbüchsen. Es geht mir famos.

Hagéville, 1. Nov. 14.

Liebe Maman, heut an „Allerheiligen im Felde“ schicke ich Dir einen kleinen Gruß aus meinem Gärtchen, in dem ich jetzt viel sitze und nachdenke und schreibe. Es ist jetzt der richtige Nachherbst, der „Altweibersommer“, wie wir ihn in Bayern nennen, gekommen, Tage von einer melancholischen Stille und unsagbarer Milde, nur vom ewigen Kanonendonner im Westen und Süden (Toul-Verdun) durchrollt. Auch in der Nacht zittern die Fenster oft unaufhörlich. Es sind jetzt die schweren Geschütze vor Verdun und Toul, die wir am dumpfen Rollen kennen. Heute war der erste Feldgottesdienst, den wir im Felde erlebten, draußen auf der freien Wiese, bei den Geschützen, da die Kirche als Vorratshaus eingerichtet ist. Ich gehe öfters auf den kleinen Friedhof, der dem Pippinger sehr ähnlich ist. Es ist so merkwürdig und rührend, all die fremden französischen Namen zu lesen, noch aus der 1. Napoleonszeit und früher mit alten Grabsteinen. Ich dachte heut so lebhaft an Papas kleines Grab, dessen einfache Platte auch an diese Gräber erinnert, und hab ihm in Gedanken einen kleinen Strauß darauf gelegt. Unser Leben hier ist unverändert; ich reite jetzt wieder jeden Tag 1-2 Stunden mein Pferd (einen kräftigen Fuchsen, dem die Ruhe jetzt sehr wohlthut); sonst schreibe und lese ich und gehe stundenlang mit meinen Gedanken im Garten auf und ab. Dazwischen kommen Tage mit Wachdienst, Requirierungen; letzthin hatte ich Straßenbau zu beaufsichtigen usf. Aber viel Dienst ist nicht. Ich fühl mich jetzt wieder so kräftig wie früher, nur darf ich kein Bier trinken und muß überhaupt vorsichtig mit Essen und Trinken sein. Mein Darm (oder ist es der Magen, ich weiß es nicht) ist merkwürdig empfindlich geworden; aber ich kann mich hier gut halten; — — — — — Nimm mit diesem kleinen Allerseelengruß einen lieben Kuß von D. Frz.

Hagéville, 11. XI. 14.

Liebe Maman, jetzt wird’s allmählich wirklicher Herbst, auch bei uns, kalt und fröstelnd. Beschämt sitzen wir in unserem gemütlichen Quartier, wenn wir an unsere Kameraden in der Front denken, in den Geschützständen und Schützengräben. Das einzig Trostvolle auch für jene, ist, daß sie die Siegenden sind; denn wenn es auch langsam geht, so schließt sich der Ring um das feindliche Heer immer enger und drückender; man stürmt wenigstens hier und in den Vogesen nicht mehr so wahnsinnig vor, wie im September und August, um das gute Menschenmaterial nach Möglichkeit zu schonen. Nun tobt dieser fürchterliche Krieg auch bald über ganz Asien, Persien, China werden unrettbar hineingerissen und ich glaube nicht, daß Amerika sich bis zum Ende dem Kampf entziehen kann. Dieser Weltbrand ist wohl der grausigste Moment der ganzen Weltgeschichte. Ich denke oft, wie ich als Bub und Jüngling trauerte, keine große weltgeschichtliche Epoche zu erleben, — nun ist sie da und fürchterlicher als es sich irgendeiner träumen konnte. Man wird klein vor der Größe dieser Ereignisse und fügt sich geduldig in den Platz, der einem vom Schicksal gewiesen wird. Ich empfinde diesen Krieg schon lange nicht mehr als deutsche Angelegenheit, sondern als Weltereignis. Gewiß hast Du recht, daß viele zum Bewußtsein von Gedanken und religiösen Gefühlen kommen werden, die sie lange für verloren und überwunden glaubten. Mir geht es ebenso. Die ungeheure seelische Erschütterung läßt uns unser ganzes Wissen und unsere Überzeugungen bis zum Grunde prüfen. Nur denke ich, daß man nicht auf alte Glaubensformeln und Gewohnheiten zurückgreifen kann, wenn man wirklich Grund fassen will in diesem Meer von Unruhe und Kriegsgewühl, sondern daß sich neue religiöse Gedanken bilden werden, ein ganz neues europäisches Reich. Das religiöse Gefühl bleibt im Menschen immer dasselbe, aber es äußert sich in immer neuen Formen. Die alten Griechen waren in ihrer Art ebenso religiös wie die Inder und Mohammedaner und Christen, und die neuen Europäer des 20. Jahrhunderts werden nicht weniger religiös empfinden, nur eben auf ihre Art. Darüber grüble ich viel, wohin, auf welches Ziel und in welche Formen sich der moderne Mensch verändern und entwickeln wird. So wie Europa gewesen ist, kann es nicht lange bleiben, auf keinen Fall nach diesem ungeheuren Kriege. So schmerzlich und wehmütig mir die Trennung von meinem Heim und meiner Arbeit ist, so bin ich doch froh, heraußen zu sein. Ich würde mich zu Hause bedrückt und krank fühlen. So lebe und erlebe ich alles mit. Ich werde auch hoffentlich alles gesund überstehen. Hier in H. können wir Kräfte sammeln. Wir sind gut verpflegt, Hunger und Durst leidet hier kein Soldat. — — — — —

Hagéville, 16. XI. 14.

L....,

heut kam Dein Brief vom 9. Es thut mir herzlich leid, daß Ihr soviel Unruhe mit den Hunden habt; ich halte Russi wohl für ziemlich alt. Wenn ihr die Notwendigkeit seht, seinem Leben ein krankes Alterssiechtum zu ersparen, so gebt ihm ruhig das Gnadenmittel. Ich hab auch hier Pferde, die ich lieb hatte, ruhigen Herzens erschossen, wenn ich sie leiden sah. Man kann die Tiere beneiden, daß man ihrem Leben diesen Abschluß geben darf. Ich glaube nach den Sindelsdorfer Erfahrungen nicht, daß er noch einen Winter überleben wird. Seine Zähne und sein Magen sind schlecht. — Jetzt gibt es keine heiße Hündinnen, die Zeit ist — meines Wissens wenigstens — unbedingt zu spät. So glaube ich auch nicht, daß Welf jetzt darunter leidet. Frühjahr und Frühherbst sind die Zeiten. Auch merkt man es dem Hunde, an schlechten Gewohnheiten, meist an; ich merkte nie etwas an Welf. Wenn Welf einmal allein ist, — und mit den Jahren wird er wohl noch ein sehr guter Hund werden. Bewegung hat er wahrhaftig genug, vor allem jetzt im Herbst und Winter, wo er im ganzen Garten laufen kann. So lang Russi lebt, würde ich Welf nicht zum Spazierengehen mitnehmen. Die Eifersucht und Wut wird nur noch größer und auch Welf wird eher, wenn er dann einmal daheimgelassen wird, erst recht närrisch. Eher gebe ich Euch den Rat, Russi B.’s in Pflege zu geben, damit die Rauferei einmal ein Ende hat. Ihr könnt ihn dann bei B.’s, oder wo Ihr ihn sonst habt, zum Spazierengehen abholen. Dann ist wenigstens Ruhe im Hause und Garten, und Welf, den wir brauchen, wird nicht ganz närrisch und verdorben, wie ich es etwas fürchte; ich kenne ja die Geschichte zur Genüge und wie machtlos man ist. Welf wird ganz anders sein und sich ziehen lassen, wenn er allein ist. Wenn man mit ihm zuweilen spielen darf, hat er genügend Bewegung.

— — — — —

Wie ich lebe? Die Kolonne hat 3 „Züge“ à 3 Wagen. Ich bin als Unt. Off. dem 3. Zugführer (Sergeant) zugeteilt, ohne besondere Funktion, da ich Meldereiter der Kolonne bin. Ich wohne mit ihm, einem sehr netten Menschen, Stadtgärtner St. (der uns bestimmt nach dem Kriege besuchen will und Dir Rat in Gartenangelegenheiten geben wird) und noch zwei anderen Gefreiten in einem Zimmer. Ich allein hab ein anständiges Bett, die 3 anderen schlafen auf einem Heulager, das wir ins Zimmer eingebaut haben. Früh zwischen 5 und 6 stehe ich mit St. auf, das Kaminfeuer wird angezündet und Kaffee gebraut. Dann sitzen wir meist 1-2 Stunden Pfeifen rauchend am Kamin, Stunden, die ich sehr gern habe. Natürlich trifft ab und zu Dienst, sodaß man gleich früh anspannen und wegreiten muß. Wenn’s hell wird, gehe ich vis-à-vis ins Quartier vom Wachtmeister, wo ich eine, den hiesigen Umständen nach nicht einmal so schlechte Waschgelegenheit habe. Seife langt noch für lange, ich hab auch von K.... bekommen. Soweit ich nicht abkommandiert werde, kann ich meinen Aufenthalt am Tage zwischen unserm Zimmer und dem Kanzleizimmer teilen, je nachdem hier oder dort mehr Ruhe ist; abends wird zuweilen tarokt. Für meine Sachen hab ich einen ziemlich großen Wandschrank. —

Heute erhielt ich einliegenden Brief von Kandinsky, gestern ein Schokoladepaket von Münter. — — — — —

Mit dem * * * bin ich jetzt wenig zusammen, da er ständig mit den Offizieren der Abteilung ißt. Ich bin im Grunde sehr froh darüber, da ich mehr allein bin und für mich arbeiten kann. Ich sehne mich noch nicht nach Verkleinerung der Zeit, der Höhepunkt ist noch nicht da; nur jetzt nichts halbes. Wir müssen die Härten der Zeit tapfer tragen, der Geist der Stunde ist es wert.

Hagéville 18. XI. 14.

L....,

unser Leben geht still weiter, oft viel Dienst, Ritte nach der oder jener Etappenstelle, Fuhrdienst in die Front vor, (wo die Artillerie übrigens auch keinen besonders schweren Dienst hat, — kein Vergleich mit den Vogesen!).

Das in den amtlichen Berichten angegebene „langsame Vorrücken“, kleine Erfolge, Zurückweisung französischer Ausfälle und Angriffe ist buchstäblich wahr; das schöne dabei ist, daß die lakonische Ruhe dieser Berichte der Ruhe und Sicherheit der deutschen Stellungen entspricht; alles wartet auf die Entscheidung im Norden. Sobald wir dort die Sieger sind, ist die französische Frontstellung nicht mehr haltbar, weil wir dann von Norden her die Etappenlinien der Franzosen eindrücken können.

Es waren jetzt wieder wundervolle Herbsttage, schwerer Frost und ganz weiße Morgen; es ist großartig, bei Sternenlicht losreiten oder fahren und dann die Sonne kommen sehen, die den weißen, glitzernden Reif löst. In den Dörfern dampfen die Misthäufen, — Du kennst ja die Stimmung. Eine merkwürdige Steigerung derselben liegt für mich in dem französischen Dorfbild, lauter Monets, Sisley und van Goghs. Das Aussehen der französischen Dörfer ist ja auch hier äußerst typisch. Nirgends Ziegelbauten, sondern alles aus einem graugelben Sandstein, meist nur schlecht getüncht. Diese französisch-impressionistische Stimmung ist für mich wie eine Kindererinnerung; ein wehmütiges Gefühl beschleicht mich dabei; aber immer, wenn ich mich in solche Szenen vertiefe, ertappe ich mich dabei, daß ich statt dem Kalt und Warm und der Luftperspektive, Zahlen sehe, rein abstrakte Klänge und schnell ist der impressionistische, anheimelnde Traum vorbei und die Arbeit beginnt!

Hab ich Dir eigentlich erzählt, daß ich jetzt viel mit Herrn * * *, den ich als Kriegsfreiwilligen in München unter mir hatte, zusammen bin? Er ist seit einigen Wochen hier, als „Schreiber“ bei der Abteilung. Er ist ein sehr feiner, hochgebildeter Mensch, dessen Verkehr mir eine große Wohltat ist.

— — — — —

Oft treffe ich auf meinen Etappenritten mit rheinischen Truppenteilen zusammen, was mir früher immer eine Freude war, der rheinische Dialekt, — ist mir jetzt fast qualvoll, da ich immer an August denken muß, — so wie ich eben auch vorher an ihn erinnert wurde, aber im gegenteiligen Sinn. Ich bin ganz wehmütig, wenn ich es jetzt höre.

Von den vielen guten Sachen, die Du mir geschickt hast, haben mich doch am meisten die — Äpfelchen gefreut; ich habe sie mit solchem Stolz verzehrt! Ausgezeichnet mundet mir auch der Kurfürstliche. Ich kann den schlechten Schnaps, den man hier bekommt, nicht trinken. Anfang des Krieges habe ich ihn unbedenklich getrunken, vielleicht zu viel; ich bin froh, daß er mir widersteht, — um so größere Wohlthat war mir Euer Schnaps; das nette, korbgeflochtene Fläschchen hab ich noch nicht probiert. Jedenfalls seid Ihr beide sicher, daß mir Euer Rieder Leben durch die Sendung besonders nah gerückt ist; beim Kurfürstlichen muß ich sogar immer an die lieben Abende in Berlin denken. Wie ist das alles fern und weit zurück!!! Morgen werd ich in Gedanken den Geburtstag von Mama mitfeiern. Ich schrieb Mama ein Kärtchen. Lebt wohl; bleibt gesund — — — — —

Hagéville, 23. XI. 14.

L.... Einliegend das Manuskript. Ich bin neugierig, wie es Dir gefällt und ob Du es für verständlich hältst. Natürlich fehlt mir hier die Ruhe, Form und Ausdruck ganz auszuarbeiten, vor allem die Stille, um das ganze Gedankengefüge auszubalanzieren. Ich muß mir meine Arbeitsstunden zu sehr stehlen. Aber doch möchte ich es gedruckt wissen, eben jetzt, in dieser unzeitgemäßen Stunde, in der alle bloß an das Heute und Morgen denken. Vielleicht antwortet jemand, das wäre mir sehr recht, zur Gegenantwort. Denn ich bin im tiefsten Grunde überzeugt, daß meine Gedanken über Europa wahr sind, wenigstens möglich sind, — letzteres wäre mehr als wahr, weil es auch die ganze Zukunftsaufgabe in sich schlösse. Ich werde in meiner kommenden Arbeit immer wieder um dieses Thema kreisen und es immer wieder neu zu fassen suchen, bis ich auf den reinsten Ausdruck komme. Ihr (darunter verstehe ich Dich und Klee) könnt unbesorgt kleine Änderungen an meinem Konzept vornehmen, den einen oder anderen Sprung logischer verbinden, wenn es Euch nötig scheint. Im übrigen fürchte ich keine Angriffe, meine Waffen sind heute geschliffen; Angriffe könnten meine Gedanken nur stärken und erweitern.

Gestern kam Dein Brief vom 7. XI., also verspätet. Die Gefahren, die Wilhelm als Batterieführer drohen, sind eher geringer, als als Zugführer, da er nicht mehr unmittelbar bei den Geschützen steht, die doch immer das Hauptziel bilden. Aber schließlich sind die artilleristischen Gefahren sehr unberechenbar, — man muß einfach Glück haben. Anfang des Krieges waren die Artillerieverluste, auch bei den Kolonnen, selbst den schweren Artillerie-Kolonnen weit größer als jetzt, weil die Etappentechnik und Sicherungen im Anfang nicht so geregelt sein konnten. Heute ist man hundertfach vorsichtiger geworden, man kennt den Mechanismus, die gefährlichen Infanterieangriffe, die uns so viele Verluste gebracht, sind heute kaum mehr denkbar, höchstens bei panikartigen Rückzügen, die uns hoffentlich erspart bleiben. — Sehr nett ist die Geschichte der Palästinawanderer; schlecht * * *’s Antwort. — Habt Ihr die Bäumchen im Rehgarten vor dem bösen Schlick geschützt? Thut es bitte. — Gestern kam einliegender Brief vom Helmuth! via Schlettstadt. An H. werd ich schreiben. Schnee haben wir keinen. Ich fühl mich wohl; vor allem haben die Nervenschmerzen, an denen ich nach der Lazarettzeit litt, ganz aufgehört. Mit Essen und Trinken muß ich immer gleich vorsichtig bleiben, aber so geht es wenigstens ohne Störung.

Weihnachten werden wir wohl sicher hier verleben; schick mir nur Backwerk und dergl. — Selbstgemachtes, das freut mich am meisten und macht mich gesund.

5. Dez. 14.

L. M.,

heut findest Du ein sehr unscheinbares neues 1/10 Maßkrügelchen, aber ich denke wohl aus gutem Zinn, — (wenn es nicht Blei ist; dazu scheint es mir aber zu leicht) Du wirst Dir schon denken können, wozu ich’s mitnahm: zum Bearbeiten. Man kann ganz tief hineinziselieren, den Henkel klopfen u. s. w. Ich sehe es schon in seiner künftigen Gestalt.

Heute abend werde ich den heilg. Niklas spielen und mit meinem großen Pelz und langem Bart französischen Kindern bange machen. Einen kleinen Sack voll Nüsse etc. hab ich schon; in was für komische Situationen man doch kommt! Mir liegen ja solche Dinge nicht, aber da niemand französisch kann als ich, hab ich’s gern übernommen. Hagéville kann sich jedenfalls über die deutsche Soldateska nicht beklagen! — Ich bin nur neugierig, wie lange wir in diesem kleinen Dürrnhausen noch liegen; allmählich wird die Sache doch sehr langweilig; ich wenigstens bin in den letzten Tagen etwas melancholisch und nervös — ungeduldig. Ruhe zum Arbeiten und Denken hat man doch selten und eine wirkliche Thätigkeit fehlt vollkommen, bis auf seltene Tage. Vielleicht, wenn Schnee und Kälte kommt, wird es meinen Nerven gut thun. Nervenschmerzen hab ich übrigens gar keine, ich rede nur von einer ganz ordinären nervösen Stimmung, die mich vom richtigen Arbeitenkönnen abhält; meine Schreiblust wird schon wieder kommen. Ich fühl mich ganz gesund, bis auf Schnupfen, den ich nicht recht los werde, aber ich fühle mich allmählich „unnötig“ hier; das ist das Ganze. Ich wollt, es gäb wieder mal eine Veränderung; es wird aber wohl bis Januar dauern. Wenn ich an meine Arbeit und an’s Malen denke, werde ich ganz fiebrig. Wir sind so streng angewiesen, nichts militärisches, was wir hier alles erleben und sehen, nach Hause zu schreiben, daß ich mich zurückhalte, manches Interessante zu schreiben; die französische Spionage arbeitet mit allen Mitteln und hat es stets auf die Post abgesehen. Man kann durch ein unvorsichtiges Wort unendlich viel verraten. Lange wird die Spannung der Heere nicht mehr dauern! Ich denke, der Höhepunkt wird noch vor Weihnachten erreicht sein.

Hagéville 11. Dez. 14.

L...., heute war plötzlich Alarm. Die Abteilung rückt ab zur Sicherung einer angegriffenen Stellung bei Pont-à-Mousson (südlich Metz, lothring. Grenzgebiet). Dort brechen die Franzosen immer wieder mit größeren Verbänden durch, (eine Meldung davon war ja auch kürzlich in den amtl. Berichten.) Wir sollen aber nach dieser Expedition, die voraussichtlich nicht lange dauert, wieder in unser Hagév. Quartier zurückkehren und ich — soll als Aufsicht und Quartierhalter hier mit zwei Mann zurückbleiben! Der Leutnant * * *, der immer sehr nett zu mir ist und meine Gesundheit für weit gefährdeter hält als sie ist, hat mir diesen Posten angetragen; ich hätte ihn wenn ich mich sehr gesträubt hätte, wohl ausschlagen können, aber nach meinen Prinzipien, hier im Kriege alles zu nehmen, wie es an mich kommt, willigte ich sofort ein; ich dachte auch an Dich, — Du wolltest sicher lieber, daß ich im stillen Hagéville bleibe. Es werden recht stille, merkwürdige Tage für mich werden; ich werde sehnsüchtig die andern in Gedanken begleiten; denn im Herzen wär ich gern mitgezogen. Ob sie freilich sehr viel dort erleben, ist fraglich. Sie werden mit der Bahn ab Mars-la-Tour verladen und rücken dann von Metz aus vor oder bleiben in Metz als Reserve stehen. Besondere strategische Bedeutung wird diesem Einbruchsgebiet nie beigemessen; es kann den Franzosen eher passieren, daß sie abgeschnitten werden und diese strategisch schlechten Vorstöße einmal teuer bezahlen. So sehen wir wenigstens diesen Punkt an. Vom Stab bleibt auch jemand, ein Offiziers-Stellvertreter mit ein paar Mann hier. Wir haben einige kranke Pferde, die zurückbleiben müssen, sollen die Thätigkeit der Einwohner etwas beobachten, wachsam sein und die Quartiere halten. In einer Beziehung freue ich mich auch wieder auf diese ganz stille Zeit. Unser Platz hier ist vollkommen sicher, die paar Einwohner sind alles alte Leute, oder Frauen mit vielen Kindern, — die sind froh, wenn wir ihnen nichts thun.

Der Kampf in den letzten Tagen ist wieder sehr heftig, die Fenster zittern und klirren vom Kanonendonner unaufhörlich. Was wird es wohl mit unsrer Weihnachtspost sein? Die wird wohl liegen bleiben, bis sich wieder alles in Ruhe in Hagéville versammelt! Wir sind in den letzten 8 Wochen doch arg verwöhnt worden! Es kam mir heute vor, wie ein Alarm in einem Veteranenverein, — alte Leute, die sich nicht gern in ihrer Ruhe stören lassen. Und dagegen unsre Vogesenzeit!! — Also sei nicht ungeduldig, wenn Du in der nächsten Zeit nichts hörst von mir, — vielleicht finde ich ja auch Postgelegenheit, aber sicher ist nichts, — vor allem werde ich zunächst nichts von Dir bekommen!

Gute Weihnachten! — — — — —

H, den 13. Dez. 1914.

L., meine plötzliche Einsamkeit im leeren Dörfchen erzeugt eine ganz traumhafte Stimmung in mir; ich bin wie auf einer Insel; man weiß, daß draußen, am Horizont das riesige Leben ist und man kann nicht zu ihm. Ich sitze viel in meiner Bude (Hieron. im Gehäuse!) und schreibe wieder an einem neuen Aufsatz. Sorge bitte, daß ich durch den Abdruck der Aufsätze nicht das Autorrecht verliere, sie nachher gesammelt herauszugeben. Die Schrift, an der ich hier noch arbeite, wird auch Aphorismusform bekommen, sodaß gut alles zusammen in einem Buch vereinigt werden kann. Erkundige Dich mal darüber, ev. bei * * *, der sich wohl darin auskennen wird.

Weihnachtsurlaub ist ausgeschlossen, aber 8. Februar komme ich. Ich sehne mich jetzt oft schrecklich nach Hause, aber man muß tapfer bleiben. Monate zählen heute nicht. Bleib nur gesund und frisch, dann ist alles gut. — Draußen ist ein elendes Schweinewetter; meine Kameraden haben’s nicht gut. Und ich sitz hier gemütlich im Trocknen; ich hab halt „Glück“, wird Maman sagen.

H, den 15. Dez. 1914.

L., meinen Brief, der von unsrer Abreise und unserm Ausscheiden aus dem Divisionsverband berichtet, wirst Du hoffentlich erhalten haben. Morgen ziehen wir los. Stell Dir vor, daß wir die gesamte Weihnachtspost, (sie füllt ein kleines halbes Zimmer in Manneshöhe!) mitschleppen müssen! Meine harmlose Aufgabe hier wächst sich zu einem taktischen Problem aus, zum mindesten zu einem Transportproblem und Kunststück. Die Armeeabt. Gaede, der wir jetzt angehören, resp. die Division Fuchs, ist eine Landsturm-Division! Also beunruhigen brauchst Du Dich gar nicht. Ich sehe sogar damit die Aussicht, früher heimkehren zu können; denn am ersten werden wohl die Landsturmformationen aufgelöst werden.

Eben kommt Nachricht, daß die Abteilung hierher — zurück — kommt, also alles beim alten bleibt. Ich glaub’s nicht; warte jedenfalls bestimmte Nachricht ab, ehe Du Briefe mit neuer Adresse schreibst.

Metz 16. Dez. 14.

L., nun ist die Unsicherheit endlich behoben; wir wurden heut nacht 1 h alarmiert. 4 Stunden Zeit um die ganze Weihnachtsbagage, kranke Pferde etc. in Bewegung zu setzen, bei wahnsinnigem Sturm und Regen. Schön war dieser turbulente Abschied von Hg. doch! Jetzt sitzen wir schon gemütlich auf der Bahn und freuen uns, wieder Neuem entgegenzufahren. Die Adresse wird nun schon stimmen. Armee-Abt. Gaede etc. — — Wir haben ca. 800 Weihnachtspakete als Transportgut!! Deines ist leider nicht dabei, kommt also am Postweg nach — aber wann?!

Gute Weihnachtstage!

Mühlhausen, 17. Dez. 14. Abend.

L.,

nun ist doch Dein Weihnachtspaketchen mit allen seinen guten Sachen und Lichtchen noch angekommen, vom Regiment direkt hierher! Das Regiment hat natürlich von unserm Alarm sofort gehört, und da es per Auto die Sachen bringt, kam es heute schon hier an. Ich hab mich schrecklich gefreut; es wäre mir Weihnachten doch traurig gewesen, ohne Dein Paketchen dazusitzen. Allerdings esse ich die Sachen natürlich jetzt schon kräftig an, erstens schmeckt alles viel zu schön, um nicht sofort damit anzufangen, ich war gerade heute sehr empfänglich, da die Reise sehr anstrengend war und dann jetzt die Alarmgefahr, d. h. plötzlicher Quartierwechsel zu drohend ist; da kann man nicht Vorräte aufstapeln. Von Koehler kam auch großes Paket, eine riesige Hartwurst und vieles andere, eine sehr männliche Sendung gegen die Deine süße. Die Äpfelchen freuten mich so. Hoffentlich kommt mein ganz schlichter Weihnachtsgruß auch in Deine Hände! Verlebe Weihnachten nur recht fröhlich und zuversichtlich. An Urlaub ist nicht zu denken, aber daß es verhältnismäßig bald und plötzlich zu Ende gehen wird mit dem Krieg, das glaub ich mit jedem Tag mehr. Es wäre doch heller Wahnsinn von Frankreich noch Monate die nicht mehr zweifelhafte Entscheidung hinauszuzögern, nachdem Rußland so versagt hat und die Kosten für Frankreich ins Ungemeßne steigen, wenn es den Krieg bis zum letzten Tropfen ficht. Ich glaube, es gibt irgendwo einen Sieg und Durchbruch der Deutschen und darauf folgend einen ganz plötzlichen Umschwung der ganzen Lage. England wird allein weiter machen, aber ohne den Franz Marc.

Hier ist jetzt regelrechtes Kasernenleben, das mir so unsympathisch ist wie am Anfang in München. Das ist nicht Krieg, sondern Garnison, obwohl wir nahe am Feind sind (ebenso nahe als ungefährlich). Was „Kaserne“ ist, wirst Du etwas nachfühlen, wenn Du jetzt vielleicht in der Max II. warst; ça pue, man ist völlig unfrei durch das Milieu, durch den Mangel an Originalität und Intimität des Milieus. Das Einzige, was mich freut, sind die Ställe. Wie sich die armen Pferde darin freuen und ins Stroh legen! Es ist der Stall der Jäger zu Pferd, prachtvoll gebaut. In den Ställen in Hagéville konnte man die armen Tiere kaum im Stall satteln, da der Sattel an den Dachbalken streifte, nirgends frisches Stroh; es zog meist so entsetzlich, daß ich vor Angst eigener Erkältung mich nie dort aufhalten konnte. Die Wunden heilten schlecht, weil sie in der Dreckluft und Staub der Ställe sich immer neu infizierten. Mir blutete oft mein Herz um die armen Pferdchen. Und jetzt dieser Unterschied! Leider war ich am ersten Tag hier nicht dabei; man erzählt, nach einer Stunde hatten sich fast sämtliche Pferde gelegt und im trocknen Stroh gewälzt vor Vergnügen!! Der Gedanke an die Pferde versöhnt mich mit dem langweiligen Kasernbetrieb. Ich glaube übrigens nicht, daß unsres Bleibens hier lange ist. Die II. Batterie, die in Stellung war und glänzend geschossen hat, kehrt morgen schon wieder siegreich nach Mühlhausen zurück. Der Ruf der Bayern scheint durch dieses kurze „scharf schießen“ dieser Batterie einen neuen Lorbeer errungen zu haben; die Begeisterung, mit der man überall, auch Metz, Straßburg und hier, uns Bayern begrüßt, ist unbeschreiblich. Man glaubt kaum an einen Sieg, wo nicht Bayern dabei waren und durch ihr Draufgehen den Ausschlag gegeben haben.

Dank Dir sehr für die Mombert-Bücher; ich bin sehr neugierig welchen Eindruck sie jetzt auf mich machen. Ein paar zufällige Zeilen, die ich drin las, haben in mir schon wieder dieses leise Glücksgefühl geweckt, das ich bei vielen seiner merkwürdigen Zeilen habe. Dank Muttchen für das eau de Cologne, das mir recht wohlthun wird. Also den Weihnachtsabend wollen wir alle fröhlich sein und unsrer sehnsüchtig aber nicht traurig gedenken; es wird für uns alle wieder alles gut, nur um August werden wir zwei immer trauern.

Ich habe in den 3 stillen Hagéviller Tagen scharf an meinem Gedankengang gearbeitet, — nun ist alles durch den Alarm wie abgerissen und ich entwirre es wie einen zerfahrenen Knäuel.

Nun, brennt Ihr Euch ein paar Lichtchen; ich zünd die meinen auch an und das kleine Bäumchen von Lasker. — — — — —

Mühlhausen, 22. XII. 14.

L., eben sandte ich Dir ein Kärtchen, als hinterher die erste Post alter Adresse mich hier erreichte, von Dir den seinerzeit ungeduldig erwarteten Brief über den Empfang meines Artikels; er hat mir mit allem, was drin steht, damals sehr gefehlt. Es freut mich riesig, daß Dir meine Gedanken so gut eingehen, es wird mit dem 3. Artikel, an dem ich jetzt arbeite und der viel schwieriges, wenigstens für mich schwieriges enthält, hoffentlich und gewiß auch so sein. Es ist so ziemlich die Kehrseite der Münze, die ich im vorigen Artikel geprägt habe. Ich habe Angst, daß man meinen Gedanken für schön und gut aber utopistisch erklärt, — es ist der Einwurf, dem ich am leidenschaftlichsten begegnen will. Die Verwirklichung meiner Zukunftsvorstellung werde ich ja nur in Bildern versuchen können, aber ich hoffe mit aller Glut, daß Männer kommen, die es in Literatur und Philosophie und Sitte verwirklichen, wenigstens für einen kleinen Kreis von Menschen; dieser kleine Kreis würde mehr beweisen als wenn die schwerfällige Masse sich in Bewegung setzte. Daran denke ich gar nicht. — — — — —

Ich bin hier oft nervös und gedrückt und zwinge mich mit aller Herbheit zur Ruhe inmitten eines greulichen Milieus und wundere mich über mich selber; denn es gelingt mir, daß mich alle Kameraden gern haben und soviel ich merke, auch die Vorgesetzten. Jedenfalls hatte ich noch nie die geringsten Unannehmlichkeiten; freilich bin ich innerhalb meiner Truppe der Einzige, der auf Ehrenzeichen und Beförderung nicht ehrgeizig ist, — solche Leute sind gut zu haben und leicht zu lieben! — Einliegend Brief von Helmuth. Gewiß wird er ein anderer Mensch werden durch den Krieg; er ist doch noch ganz, ganz jung; wenn ich diesen lieben Brief lese und dann denke, wie wir vor 4 (oder sind es 5) Jahren den Maler Helmuth ansahen, — ist es nicht komisch? — — — — —

M., 23. XII. 14.

L., gestern abend feierten wir unser Soldatenweihnachten, — Kasernweihnachten; es war recht nett arrangiert, Baum und Lichter, Freibier, Tabak und kleine Geschenke, mit denen der Leutnant sehr liberal die Kolonne versorgte. — Wir hatten gestern ein kleines Exerzieren in der Umgebung von Mühlh., Besichtigung durch den General F., der sehr entzückt schien über „die Bayern“. Es scheint mir sehr sicher, daß wir bei dieser Division dauernd bleiben. Mir ist’s ganz recht, wenn die Sache nur nicht allzu dauernd ist! Es scheint doch, daß die Deutschen mit dem Durchbruch warten müssen, bis sie Verstärkungen aus dem Osten heranziehen können. Die Hartnäckigkeit der Franzosen wird mir — politisch gedacht — immer rätselhafter, der selbstmörderische Drang ist stärker als die politische Überlegung. Es ist unheimlich zu sehen, wie die staatliche Interessenpolitik, die ein Werkzeug eines tieferen Willens ist, sich gegen sich selbst wenden muß, wenn dieser tiefere Wille es will! Das sind die sogenannten „Fehler“ in der Politik. Wir wollen geduldig sein und kein vorzeitiges, halbes Ende wünschen, wenn auch unsere „Interessen“ ein schnelles Ende verlangen. Wie sehr ich’s verlange!

Habt Ihr was von Wilhelm gehört? Ich vermute und hoffe, daß er jetzt einen ruhigen Grenzdienst hat, nachdem sich der fabelhafte Entscheidungskampf so tief südlich abgespielt hat. Am russischen Schauplatz spielt sich der Krieg, wie ich ihn träume und deute, zweifellos nicht so rein ab, wie zwischen Deutschland und Frankreich. Rußland hat zu viel uneuropäische Elemente, um ganz im Kriegstaumel aufzugehen. Wie mag nur der Krieg mit England gehen? Daran denk ich immer und kann mir kein Bild davon machen.

Gutes Neues Jahr allen und uns beiden! Spiel nur schön Klavier und denk an mich, an uns beide. — — — —

Mühlhausen, Weihnachtsabend auf der Wachstube.

L.,

ich bin ganz vergnügt über dieses Wachstubenweihnachten. Die Nachricht über Wilhelm hat mich so melancholisch gemacht, daß ich heute lieber nicht unter den Kameraden sitze. Ich kann ungestörter an Euch alle, an mein Leben und unsre Zukunft — und Vergangenheit denken. Vergangen ist so viel in diesem Jahre! Das Haus „Hinter der katholischen Kirche“, das Haus in Bonn, Haus Kandinsky, nun auch Gendrin, — die Frauen sind überall dageblieben, aber der Sinn jener Häuser ist dahin. Wie glücklich sind wir, unser kleines Ried zu haben, als feste Insel in diesem Vergehen. An ihm will ich mit allen Fibern meiner Seele halten, daß uns und anderen wenigstens diese Feste bleibt. Ich denke mit jedem Tage sehnsüchtiger nach Hause. Aber ehe der Krieg vorbei ist, will ich gar nicht heim — schon weil ich es nicht kann. Ich bin froh, wieder so gesund geworden zu sein, daß an Urlaub nicht zu denken ist. Ich bereue auch keinen Tag, mich ins Feld gemeldet zu haben. Ich wäre in München stets unglücklich, gedrückt und unzufrieden gewesen und hätte für mein Wesen und Denken zu Hause nichts gewonnen, sicher nicht das gewonnen, was mir heraußen der Krieg gegeben hat. Ein bißchen stiller und melancholischer wirst Du mich vielleicht finden, — Du wirst es auch sein; die Klugen und Denkenden alle werden nicht dieselben sein wie früher. Eine solche Zeit durchleben die Menschen nicht alle 100 Jahre, viel seltener sogar. — Was mir das Soldatenleben schwer machte, (— es wäre in München das Gleiche), daß ich neben und zwischen dem Dienst hindurch immer andere Gedanken und Pflichten im Kopf habe und den Dienst immer gegen meine Kopfarbeit und diese gegen den Dienst ausspielen muß. Ich beneide so oft meine Kameraden, die im Feld nur Soldaten zu sein brauchen und von nichts anderem innerlich gequält und beschäftigt werden als höchstens der Sehnsucht nach Hause, die ich genau so habe wie sie. Aber ich kann mich von meinen Gedanken und Träumen nicht losmachen, will es auch gar nicht. Die kleinste Zeitungsnotiz, die gewöhnlichsten Gespräche denen ich zuhöre, bekommen für mich einen geheimen Sinn und Hintersinn; hinter allem ist immer noch etwas; wenn man dafür einmal das Ohr und Auge bekommen hat, läßt es einem keine Ruhe mehr. Auch das Auge! Ich beginne immer mehr hinter oder besser gesagt: durch die Dinge zu sehen, ein Dahinter, das die Dinge mit ihrem Schein eher verbergen, meist raffiniert verbergen, indem sie den Menschen etwas ganz anderes vortäuschen, als was sie thatsächlich bergen. Physikalisch ist es ja eine alte Geschichte; wir wissen heute, was Wärme ist, Schall und Schwere, — wenigstens haben wir eine zweite Deutung, die wissenschaftliche. Ich bin überzeugt, daß hinter dieser noch wieder eine und viele liegen. Aber diese zweite Deutung hat den menschlichen Geist mächtig verwandelt, die größte Typusveränderung, die wir bis jetzt erlebt haben. Die Kunst geht unweigerlich denselben Gang, freilich auf ihre Art; und diese Art zu finden, das ist das Problem, unser Problem! An solchen Problemen herumfingern und sich quälen und gleichzeitig Soldat sein und kein schlechter (denn das bin ich keineswegs), ist wirklich oft recht schwer. Wann es wohl Schluß sein wird? Ich glaube immer noch an ein plötzliches Nachgeben der Franzosen, an das „Wunder“ auf das Niestlé und Du gewartet habt. (Der Krieg selbst ist übrigens Wunder genug, um die alte Prophezeiung zu rechtfertigen.) Sie werden plötzlich einsehen, wohin die englische Politik sie treibt: die Engländer haben das größte Interesse daran, daß Deutschland und Frankreich sich gegenseitig verbeißen und bis zur Verblutung schwächen. Ein ganz geschwächtes Frankreich ist das gefügigste Werkzeug der späteren Engländer. Darum ziehen die Engländer den Krieg auch so in die Länge und verteidigen höchstens Calais mit aller Hartnäckigkeit, denn hier liegen englische strategische Interessen. Am Anfang war das anders; da bestand noch das Triple-Entente-Interesse. Aber seit die Russen und Franzosen in der Offensive versagt haben, ist der Plan und die Politik der Triple-Entente längst dahin; sie besteht nicht mehr. England kämpft nur mehr für sich und profitiert von der Schwächung aller Staaten. Die letzte große Offensive der Franzosen seit dem 16. Dezember auf der ganzen Linie ist kläglich gescheitert. Vor Verdun sowohl als hier stimmen die amtlichen Berichte genau mit den Thatsachen, das kann ich Euch zur Beruhigung sagen. Im Norden wird es wohl auch so sein. Frankreich kann nicht mehr lange standhalten. Ich glaube, ihr wunder Punkt ist der Argonnenwald. Hier wird der deutsche Durchbruch erfolgen; ein Aufrollen der französischen Frontlinie von Norden her scheint unmöglich. Freilich hab ich immer gedacht, daß die Ereignisse schneller kommen würden; aber kommen werden sie und mit ihnen der Tag, wo man „das Ganze halt!!“ blasen wird. Dann komm ich wieder!

Schreib mir von Eurer Reise; von Hertha und dem armen kleinen Piep. Wo ist der gute Wilhelm bestattet? Ich war in Gedanken mit Euch; bleibt gesund und laßt Euch vom Gram nicht niederdrücken. Ein besseres neues Jahr uns allen!

27. Dez. 14.
Bertschweiler (südlich Gebweiler)

L.,

ich fühle mich ganz glücklich, wieder ein bißchen im Treiben des Krieges zu sein; ich bin körperlich so erholt und frisch, daß ich die damit verbundenen Strapazen nicht tragisch nehmen kann, zudem man heute Mannschaft und Pferde bei uns ganz anders schont, als dazumal in den Vogesen, wo in der ersten Kriegsbegeisterung und Kriegsunerfahrenheit viel Unsinn gemacht wurde. Der ganze, sehr kleine deutsche Winkel, in dem die Franzosen noch sitzen, soll endlich gesäubert werden. Direkter Anlaß zum Vorgehen waren die Vorstöße der Franzosen selbst, die man, wären sie ruhig in den paar Dörfern geblieben, wahrscheinlich unbehelligt bis zum Friedensschlusse dort gelassen hätte. Die Kämpfe der Infanteristen, deren Zeuge ich gestern war, sind freilich grausiger, als ich sie je vorher gesehen. Ich war gestern Abend ganz erschüttert; der Mut, mit dem sie vorgehen und die Gleichgültigkeit, ja Freudigkeit für Tod und Wunden hat etwas Mystisches; diese Stimmung ist natürlich auch das Versöhnende, die Erklärung des dem gewöhnlichen Verstande Unerklärlichen. Unsre Artillerie schießt jetzt glänzend, bedeutend besser als am Anfang. Gestern Nacht sollten wir in Wattweiler, von wo aus wir schossen, bleiben. Ich hatte schon zwei Nächte fast ohne Schlaf vollbracht und mir ein schönes Heulager zurechtgemacht und schlief bald wie ein Stein, als schon um 11 Uhr Alarm kam; sofort abrücken, da schwere Artillerie den Ort zu beschießen anfing. Es ging alles in tadelloser Ordnung nach Berrweiler zurück, wo wir noch einen kleinen Rest der Nacht schlafen konnten. Heute früh kam unsre 3. Batterie auch an und fuhr mit der 1. auf. Ich habe als Meldereiter für den Munitionsersatz wenig zu thun und sitze hier in Bertschweiler bei der Staffel. Es war ein schwerer Frost heute Nacht und heute ein herrlicher Tag; dieses trockene Wetter ist eine riesige Wohlthat. Ihr braucht Euch ja keine Gedanken über etwaige Gefährlichkeit meines Dienstes machen. Ich stehe sozusagen unter dem Schutz meiner Munition, die man natürlich um alles in der Welt vor direkter Beschießung behütet. Meine Schreibereien ruhen natürlich in solchen Tagen. Das Interesse ist notwendig nach außen gerichtet; man wird Artillerist mit seinen ganzen Sinnen. Viele Freude machen mir auch die verschiedenen neuen Dörfchen und Städtchen, die man kennen lernt, der „Impressionismus“. Wir glauben nicht, daß wir sehr lange in Aktion sein werden; die Franzosen weichen an den meisten Punkten. Immer muß ich jetzt an Euch denken, daß Ihr traurig im lieben Häuschen sitzt, ohne frohe Herzen und traure mit Euch. Wenn Ihr aber an mich denkt, so denkt froh, wie ich es auch thue und auf das Wiedersehen harre.

Neujahr 1915.

Prosit Neujahr! Es ist ein fabelhafter schöner Tag, rührend schön, als ich im ersten Morgenlicht wieder in meine Stellung ritt. Die Berge sind alle weiß, aber herunten im Thal spüren wir noch keinen Winter. Wir tranken gestern so beträchtliche Mengen Punsch, daß wir ganz schwer und taumelig einschliefen. Das famose Bett und richtige Mittagessen, das ich jetzt habe, bringt mich oft ganz vom bitteren Ernst des Krieges ab; ich bin viel weniger nervös und aufgeregt und leb jetzt mehr in Heimatgedanken, trotz der dröhnenden Kanonen. So traurig es ist, daß im Osten die Entscheidung sich so in die Länge zieht und vielleicht ganz neuer Operationen bedarf, so bleibt doch immer die eine Beruhigung: Ins Land kommt der Feind nicht, weder im Osten noch im Westen. Jeder Versuch der Franzosen, im offenen Gelände vorzudringen, wird von unsrer Artillerie spielend (oder wie der amtliche Bericht sagt: „leicht und unter schweren Verlusten für den Feind“) zurückgewiesen. So war es vor Verdun, in den Vogesen und hier und wohl auf der ganzen Linie und im Osten. Die 42 stehen alle an der Küste, dort oben wird die Entscheidung fallen, — wie, kann ich mir freilich nicht vorstellen; die ganzen Operationen im Norden entziehen sich leider so ganz meiner Vorstellung. Die Äußerung von T. über den Handelskrieg mit Unterseebooten ist toll in ihrer Unverblümtheit; ich bin neugierig oder besser gierig auf das, was im Norden sich noch ereignen wird.

Gottlob liegt das süße kleine Ried in einem vor dem Weltkrieg so geschützten stillen Winkel. Halte und verwalte es nur treu, bis ich einmal wieder mit dem Kochler Zügelchen da hinaus und heimkomme! Um unsre Zukunft ist mir nicht bang. Ich finde Menschen. — — — — —

— — — — — Fr.

2. Jan. 15.

L., im Gegensatz zu gestern ist heute ein abscheulicher Regentag; es ist alles so verschleiert, daß an Schießen nicht zu denken ist. Dafür war gestern Mittag und Nachmittag eine derart furchtbare Kanonade, wie ich sie bis jetzt noch nicht gehört hatte; alles zitterte und gellte. Eine Reihe Dörfer brennen. Es ist ein zu merkwürdiger Krieg: von einem systematischen Durchbruchsversuch der Franzosen ist keine Rede. Meist lassen wir die Franzosen anfangen; kaum ist der erste Granatengruß herübergekommen, quittieren wir mit einem gleichen. So folgen sich die „Gänge des Duells!“, bis dem einen oder andern plötzlich die Geduld reißt und er „Ruhe haben will“ und er, nach Erkundigung der feindlichen Stellung durch die vorangegangenen Einzelschüsse, mit wahnsinnigen Salven losgeht; es kommt eigentlich darauf an, wer zuerst zu diesen Salven wirksam übergehen kann. Liegen die Schüsse gut, verstummt der Feind, um seine Stellung nicht noch mehr zu verraten. Gestern sollen wir zwei französische Gebirgsgeschütze vernichtet haben. Als „Strafe“ schossen die Franzosen Sennheim in Brand. Wir revanchieren uns, indem wir Thann in Brand schießen. An Vorgehen hier in die Berge ist ja nicht zu denken; und die Franzosen trauen sich auch nicht in die Ebene; hier kann nie eine große Schlacht oder Entscheidung fallen. Ich sitz in warmer Stube und schreib an meinem Artikel! — Alles Liebe und Gute — — — — —

Bertschweiler, 3. Jan. 15.

L.,

— — — — — — Die Zeit geht jetzt so schnell dahin, erschreckend schnell, und während sie eilt, „steht“ der Krieg; man fühlt nur das furchtbare Zittern rings an der Front. Diese Wochen sind eigentlich der furchtbarste Moment des Krieges. — Wie geht es wohl Euch? Ich denk so viel jetzt nach Hause, vor allem träume ich immer von daheim, selbst von meiner Kinderzeit, von Dir und Wolfskehl, mit dem ich mich im Traum oft lang unterhalte. Ich sehe mich schon wieder unter Euch, — es kann nicht mehr so lange dauern, als die Zeitungen immer prophezeien. Aber das Wie des Ausgangs und Ende ist mir dunkler als je. Bleibt gesund — — —

7. Jan. 15, abends.

L.,

endlich kann ich Dir den großen Artikel II schicken; ich bin in seiner Beurteilung ebenso unsicher als seinerzeit beim ersten. Er birgt jedenfalls sehr viel, meinem Gefühl nach an manchen Stellen zu viel und doch wußte ich’s nicht zu ändern. Ich kann im Felde nicht anders schreiben, weitläufiger und begründeter. Er ist in unruhiger Zeit geschrieben und für sie gedacht. Der gute Wille wird aus ihm schon lernen können; mich hat er jedenfalls im Denken unendlich weitergebracht und gefördert und Dir wird er glaube ich, auch vieles sagen. Ohne den Krieg wären alle diese Gedanken nicht „denk“bar, z. T. noch gar nicht vorhanden. Schreib mir offen, wie Du ihn findest, ebenso Wolfskehl und Klee.

— — — — — Heute brauste den ganzen Tag ein furchtbarer Sturm in der Luft, aber es ist immer wie im März.

11. II. 15.

L.,

hier kommen die leergegessenen Büchsen wieder zurück und was ich sonst nicht mehr brauche. Maman hat mir wieder viele Theesäckchen geschickt, so daß ich das Theepäckchen nicht brauche und Du kannst es jetzt besser gebrauchen.

Das Wetter ist wieder frühlinghaft, der Winter hat hier wenig Kraft. Bald werden die Frühlingsblümchen kommen, die ersten Leberblümchen, vielleicht auch schon bald in Ried!! Wie hab ich mich voriges Jahr auf diese Tage gefreut und nun muß ich es wieder ein Jahr aufschieben, diese kleinen Frühlingsfreuden in Ried. Ich muß jetzt immer an vergangenes Jahr denken; Ausdauer ist jetzt alles, wir kennen jetzt bald keine Tugenden mehr als diese. Laß sie uns üben, sonst können wir nicht Sieger bleiben, weder draußen noch im Geiste. Die Lage in Europa wird immer kritischer, verhängnis- und schicksalsvoller, für alle Teile; der ganze europäische Leib ist heute ergriffen. Es ist alles kindisch, was man an kleinen persönlichen Wünschen an dieses Riesenschicksal hängt. Die Gedanken quälen mich oft, daß am Ende der ganze Leib unter der Krankheit einst erschöpft zusammenbrechen wird. Das geistige Reich wird bleiben, vielleicht (sogar gewiß!) um so stärker. Um diese Zukunft ist mir nie bang, — aber was wir am äußeren Reich erleben werden, das können wir heute wohl noch kaum ausdenken. Welche Zeit!! und dazu die kleinen unschuldigen, ahnungslosen blauen Leberblümchen!

Sticke nur fleißig und recht schön und frei, Du Liebe; sticke alle Sehnsucht hinein, aber auch allen Mut.

Ich schlaf jetzt warm und schön in meinem Schlafsack auf Heu und meine oft, ich bin auf der Alm!

— — — — — Einliegend ein Band Mombert. Die Schöpfung behalte ich noch, die mich in vielem jetzt auch ungeheuer fesselt. — — —

20. Februar 15.

L., nun sind die 100 Aphorismen geschrieben; es ging zum Schluß schneller, als ich dachte; ich hatte einige ganz ruhige Nachmittage. Ich habe sie flüchtig noch einmal überlesen und erschrak manchmal über die Schwierigkeiten, die sie für den Leser bergen. Gedruckt werden sie ja natürlich zugänglicher sein; ich arbeitete in meinem Quartier (sie sind zu Vierfünftel in F. geschrieben in einem kleinen Zimmerchen, dessen Photographie von außen, Fenster rechts der Türe, ich beilege, in dem es keinen Platz zu einem Tisch gab und also zum Schreiben nur das Knie!), das Heft stammt noch aus H.! Laß Dir ja Zeit mit der Reinschrift, daß sie Dich nicht anstrengt; das Ganze ist so gedrängt und die einzelnen Gedanken meist so gedrungen, daß man schon jedes Wort klar lesen muß, um hinter seinen ganzen Sinn zu kommen. Ob noch sehr viel korrekturbedürftig ist, kann ich jetzt absolut nicht beurteilen; ich müßte es in einer klaren Abschrift überlesen können. Das Schönste wäre natürlich Schreibmaschine; aber das ist wahrscheinlich teuer und Helene ist viel zu beschäftigt, als daß ich sie bitten könnte. Wenn Du es abschreibst, nimm immer Doppelbögen, die Du nur auf der Innenseite einseitig (rechts) beschreibst, damit man links eventuell Korrekturen setzen könnte, — oder immer eine Zwischenzeile leer lassen; ich glaube, das erste wäre besser. Vielleicht ist ja auch gar nicht viel zu ändern — tant mieux! In einer Herausgabe großer klarer Druck; ob es gut ist, sie mit I und II zusammen oder allein zu bringen, ist mir jetzt nicht mehr klar. Ich glaube ja, daß der Zusammenhang mit I und II das Verständnis sehr erleichtern könnte. Du wirst es erst beurteilen können, wenn Du es selbst abgeschrieben hast. Wieviel Menschen werden reif sein, das Buch ernst, also als geistiges Tatsachenmaterial zu nehmen und nicht als „Literatur“. — — — — —

Was wirst Du selbst zu den 100 sagen? Darauf bin ich sehr neugierig, neugieriger, als auf den Zorn der Vielen auf Nr. 95-97 oder das eisige Schweigen der Menge. Vielleicht wirst Du auch wieder das Verlangen nach einem großen, weitausholenden Buche über all diese Probleme haben, — aber bedenke, daß ich nicht Schriftsteller oder Gelehrter, sondern Maler bin; ich würde es wahrscheinlich nie können, und muß es Berufeneren überlassen. Man weiß ja zur Genüge, wer ich bin; der Leser wird sich von vornherein auf diese Voraussetzung einstellen, oder muß es eben. Ich schreibe ja im Grunde nur, weil die Berufenen versagen und um sie zu reizen und zu wecken und letzten, und besten Endes schreibe ich überhaupt nur für mich, und was ich schreibe, bedarf notwendig der Ergänzung durch meine ungemalten! — Werke. Nun hast Du wieder „Stoff“ zum Leben.

Schreib bald alles, was Du denkst; ich korrespondiere gern über das Einzelne, wenn Du es anregst. Aber erwähne den Aphorismus stets in seiner vollen Form; ich hab hier keine Abschrift.

21. Februar 1915.

L.,

morgen gehen die Aphorismen an Dich ab, eingeschrieben. Ich war ungeduldig sie abzuschicken und hab sie nicht mehr ganz überlesen und nachkorrigiert, — ich möchte das lieber nach einer gewissen Pause machen, wenn ich etwas Distanz von der Arbeit habe. — Von Lasker bekam ich einen hübschen Brief; sie beklagt sich, daß ihr die Menschen immer „Kartoffeln auf die Zacken ihrer Krone setzen“. Sie war sehr krank. — — — — —

14. III. 15.

L....,

heute wurde ich furchtbar sehnsüchtig; es regnete und tropfte von allen Zweigen mit einem Klang, den es nur im Frühling gibt. Ich mußte denken, wie es jetzt daheim in unsrer Waldecke duften muß! In den Gärten treiben schon die Knospen an den Obstbäumen, die Rhododendren entfalten schon Blättchen, wie wäre es jetzt schön, in Ried zu sein! Pfleg nur alles recht schön im Gärtchen und genieße es, auch wenn Du allein bist. Was macht der Specht? Ist wieder das Rotschwänzchenpaar da? Ist der Fasan wiedergekommen? Der köstliche Storch hier macht mir doppelt Lust, einen Kranich zu halten. Grüß die kleinen Rehe; die werden wieder knabbern, wenn der Schnee weg ist! — Wenn Du mir etwas von Gundolf schicken willst, freut es mich sehr. Ich bin jetzt schon zum Lesen aufgelegt. Nur nichts über Plato! Daß die Leute immer hinter der Front der Gegenwart nach dem Heil und Guten suchen! Immer auf Krücken gehen, auf fremden Zeiten; es sind keine schöpferischen Menschen. Mein Hauptgedanke ist jetzt: Entwurf zu einer neuen Welt; immer schaffen, vor sich arbeiten.

— —
Fz. M.

17. III. 15.

L..., Koehler schrieb mir heute auf einer Sturm-Postkarte meiner „Tierschicksale“. Bei ihrem Anblick war ich ganz betroffen und erregt. Es ist wie eine Vorahnung dieses Krieges, schauerlich und ergreifend; ich kann mir kaum vorstellen, daß ich das gemalt habe! In der verschwommenen Photographie wirkt es jedenfalls unfaßbar wahr, daß mir ganz unheimlich wurde. Es ist von einer künstlerischen Logik, solche Bilder vor dem Kriege zu malen, nicht als dumme Reminiszenz nach dem Kriege. Da muß man konstruktive zukünftige Bilder malen, keine Erinnerungen, wie es meist Mode ist. Ich habe auch nur solche im Kopf. Ich wunderte mich zuweilen darüber, jetzt weiß ich, warum es so sein muß. Aber diese alten Bilder des Herbstsalons etc. werden noch einmal ihre Auferstehung feiern.

Heute sah ich die feine Sichel des neuen Mondes und dachte lebhaft an Dich und Ried und die Rehe — über Euch allen stand sie auch, so fein und leicht wie ein Diadem. Und diese Frühlingsluft, in der alles so sonderbar klingt. An dieses Frühjahr werden noch Generationen denken; die ältesten Leute werden noch später von ihm erzählen; die Stimmung steigt immer mehr ins Unbegreifliche. Wie bist Du glücklich Deinen Flügel zu haben und spielen zu können. Bei mir stapelt sich alles bis zur schmerzhaften Müdigkeit im Kopf; aber ich fang jetzt leise an im Skizzenbuch zu zeichnen. Das erleichtert und erholt mich.

— —
Dein Frz.

27. III. 15.

Liebe, Deine Briefe freuen mich jetzt so, sie sind endlich alle auf einen andern Ton gestimmt, auf den ich so lange gewartet. Was hilft alles deprimiert sein. In mir tritt allmählich an die Stelle der sich periodisch ablösenden pessimistischen und optimistischen Stimmungen die — Neugierde. Ich werde allgemach Zuschauer dieses tollen europäischen Dramas; die Unberührtheit * * *’s!! usw. mache ich freilich nicht mit. Um so mehr lebe ich in meinen eigenen Plänen und Gedanken so wie Du auch. Ja, das bl. R.-buch! Damit hast Du völlig recht; buchtechnisch und als „Klang“ äußerlich ganz verfehlt und innerlich verworren, weil voll Rücksichten und Verbeugungen vor Dingen, die im Grunde nicht das Geringste mit unserer persönlichen Aufgabe zu thun haben. — — — — — Ich werde auch nie an etwas Ähnlichem (wie den Plänen von * * *) wieder mitarbeiten, sondern möglichst allein Dinge „bilden“. So denk ich mir auch die Aphorismen; den prophetischen Ton möglichst vermeiden (höchstens daß man bei jedem Wort fühlt: der Pfeil ist nach vorn abgeschossen, nicht nach der Seite und daß nichts darin im toten Zirkel läuft). Das Ganze als Selbstgespräch wie jedes gute Bild, die Art Bach’s, dessen Musik im Grunde den Hörer nicht braucht, — im Gegensatz zu Wagner und Schönberg, deren Musik nur im Zuhörer lebt und auf dessen Seele lauert; ein ähnlicher Gegensatz wie Mantegna und Dürer; Dürers meiste Sachen (nicht alle, z. B. die Holzschnitte nicht) sind ohne den gebildeten Zuschauer tote Dinge. Mantegna’s Bilder leben auch, wenn kein Mensch sie ansieht; man erschrickt, wenn man ihnen zufällig begegnet. (National-Galerie!) ähnlich wie man über das geheime, selbstschöpferische, unabhängige Leben erschrickt, vor dem neu angekauften Bild eines alten Italieners (Seitenkabinett der Pinakothek, ich glaube Nähe des Tiziansaales) Mann, Frau, Kind und Falke; ich glaube, ich zeigte Dir einmal die Photographie dieses wunderbaren Bildes.

Daß Kam.... wirklich Komponist ist, wußte ich gar nicht. Dann verstehe ich natürlich, daß er nicht in dem Sinne zum Musizieren zu bringen ist. Aber das ist ja auch das, was ich immer bei Dir und bei * * * vermisse. Du verstehst, wie ich das meine; Musikmachen ist für mich Unerfahrenen etwas so Wunderbares, daß ich immer zu leicht aus dem Spielenkönnen die Folgerung eines schöpferischen Gestaltenkönnens ziehe; daher aber auch meine alte Abneigung gegen alles pedantische oder virtuose Spiel, das beides unwesentlich ist. Ich sehne mich nach nichts mehr, als einmal einen Komponisten spielen zu hören. — — — — — — — — — — —

— —
Dein
Frz.

28. III. 15. Palmsonntag!

Heut über Nacht ist plötzlich hoher Schnee gefallen, ganz unerwartet. Ich war noch gestern und vorgestern mit meinen Wagen in der Stellung vorn; gestern Nachmittag und Nacht kamen wir in strömenden Regen und heute morgen ½ m Schnee! Die armen Störche frieren und sehen sehr bekümmert drein. Es wird ja wohl nicht lange dauern. Die kriegerischen Operationen hier zeigen dasselbe Bild wie überall in den Vogesen: ein auf und ab, wie wir es seit 7 Monaten gewöhnt sind. Ihr lest es ja aus den amtlichen Berichten. An ein Hinausdrücken des Feindes ist zunächst wohl für lange nicht zu denken. Ich muß dabei oft an die Aufgaben der Österreicher in den Karpathen und Serbien denken; vielleicht thun wir ihnen doch auch etwas Unrecht mit unsrer geringschätzenden Ungeduld. Was Kämpfe in starkgebirgigem Gelände bedeuten, das wissen nur die, die es erlebt haben.

Eine Beobachtung verfolgt mich stark in meinem ganzen Kriegsleben: die ewige Wiederkehr des Gleichen, nämlich der gleichen Menschentypen! Es ist mir oft, als gäbe es nur eine bestimmte begrenzte Anzahl von menschlichen Existenzeinheiten, resp. Verschiedenheiten. * * * dient bei mir in meinem Zug (ein sehr ordentlicher Mensch), * * * ist hier Kellnerin, Kubin, Kandinsky, Klee, — alle sind so und so oft im Krieg vertreten. Desgleichen wiederholen sich in unglaublichem Maße „Situationen“, wenn man ein etwas somnambules Gefühl dafür hat und sie „sieht“. Die Tiere gehören selbstverständlich auch in diesen ewigen Typenkreislauf. Die uralte Lehre von der Reinkarnation und Nietzsches ewige Wiederkehr des Gleichen hat für mich einen ganz neuen Sinn bekommen, den ich früher nie erfaßt hatte. Es ist durchaus kein müßiger Gedanke; denn er greift tief in das Geheimnis der künstlerischen Gestaltung hinein; vielleicht ist er überhaupt seine Erklärung. Wirkliche Kunstformen sind wahrscheinlich nichts, als dieses somnambule Sehen des Typischen, das Sehen zwingender (und daher richtiger) Spannungsverhältnisse. Das Richtige war immer schon richtig, immer schon einmal da. Ich weiß nicht, ob es verständlich ist, wie ich mich ausdrücke. Es ist so stark halb- d. h. unterbewußtes Erlebnis, keine Klügelei und man müßte erst die ganz richtigen Worte dafür finden; vielleicht gibt es sie auch nicht; denn es ist gar nicht notwendig möglich, alles mit unserer unvollkommenen menschlichen Sprache auszudrücken. Der Gedanke ist deswegen doch da. Der Sternenhimmel, den ich in diesem Winter außerordentlich viel beobachtet habe, ist für mich gewissermaßen ein Leitfaden, die Logarithmentafel dieses Gedankens: Die Spannungsverhältnisse der einzelnen Sterne und Sternbilder zueinander sind wie die Typenformeln, für den Sehenden wie ein aufgeschlagenes Buch des Lebens, der „möglichen Situationen“. Ich verstehe jetzt auch die vielverspotteten Astrologen. Ihre Gedanken sind nicht etwa Aberglaube oder Irrtümer sondern nur frühere mittelalterliche Formung von Gedanken, die uns auch heute wieder begegnen; wir formen sie künstlerisch, die Alten zogen soziale Schlüsse aus ihnen, aber der Grundgedanke und Ursprung dieses mythischen Sehens ist gewiß derselbe.

In acht Tagen ist Ostern, — verleb es friedlich und glücklich. Hoffentlich ist das Frühlingswetter bis dahin wieder da. Ich werde in diesen Tagen mit meinen Gedanken lebhaft und sehnsüchtig in Ried, bei Dir und allem was zu unserm Leben gehört sein. —

Mit liebem Osterkuß

Dein
Fz.

29. III. 15.

L..., heut kam endlich Dein großer und kluger Brief über die Aphorismen. Ich kann unmöglich schnell und ausführlich antworten und schreibe diese kurze Karte nur um Dir zu sagen, daß ich mit keinem Gedanken traurig über Deinen Widerspruch bin, sondern nur dankbar. Über Kunst kann man nicht „reden“, höchstens über die Mittel. Es wird gewiß mein Fehler in den Aphorismen sein, daß sie durch sehr viel mißverständliche Worte und Unklarheiten den Anschein erwecken, als wollte ich die Kunst definieren, während ich nie mehr als eben die Mittel definieren kann (wie es Delacroix und van Gogh z. B. getan haben). Wenn ich sie je überarbeite und herausgebe, müßte ich dies in voller Klarheit herausstellen. Aber daß die „Form“ von selber kommt, wenn man nur wirklich etwas zu sagen hat, das scheint mir nicht wahr. Beständige Meditation über die Form, beständigen Willen zur Form, den man immer wieder korrigiert, verwirft, neu ansetzt, mit allen Hebeln der Welt und Erfahrung, — ohne das geht’s nicht. Blos leben, das Leben fühlen bis zum Kern und auf die Form warten wie die Blumen auf den Frühling, das war und ist nie produktive Kunst. Das Werk freilich muß den dornenvollen Weg ganz vergessen machen. Der Beschauer soll und kann nur das reine Werk sehen, unsre Nöte gehen ihn nichts an, auch unsre „Mittel“ nicht. Ich schrieb Dir schon einmal, daß ich die Aphorismen eigentlich nur für mich geschrieben habe, und Du errätst richtig, daß ich sie eigentlich geschrieben habe, um mich von meiner „Romantik“, die mir schon so viel Qual verursacht hat, da ich sie als unrein empfinde, zu befreien. Ich bin sehr neugierig auf Tolstoi. Soweit ich ihn kenne, ist gerade Tolstoi derjenige, der immer Zweck in der Kunst sieht! (z. B. Einigung der Menschen, was ich als Phrase empfinde); aber ich will ihn lesen, ehe ich urteile und will Dir noch viel über alles schreiben: — Schreib mir einmal: ist * * * produktiv? schafft er wirklich oder lebt er nur rein? Ist er ein mehr passiver oder aktiver Geist?


Dein Frz.

30. III. 15.

L., nun liegen Deine drei langen Briefe über die Aphorismen vor mir und machen mich sehr glücklich. Ich sag dies gleich und bitte Dich, Dich immer an diesen Satz zu erinnern, auch wenn Du vielleicht im folgenden und später oft vieles zu lesen meinst, dem Du widersprechen willst und mußt und das Dir Angst macht, daß ich Dich vielleicht gar nicht verstanden hätte. Ich verstehe Dich und was Du willst und die Wahrheit dessen, was Du forderst, vollkommen und werde immer wieder auf diesen Kern und Urgrund dringen, auch wenn ich auf Umwegen gehe. Die Umwege sind bei produktiven Naturen sicherlich oft die einzig mögliche Verbindung mit dem Ziel; einer der nur lebt, und in Reinheit wie ein Eremit im Leben steht, lebt vertrauter mit dem Gott und Urgrund des Seins (z. B. auch Ihr Frauen und Mütter) als ein produzierender d. h. „sich quälender“ Geist. Deswegen will ich doch zur Reinheit und bin mir bewußt, daß viel Unreines in meinem ganzen bisherigen Werk und z. B. auch in den Aphorismen ist. In den letzteren vor allem. In einem thust Du mir unrecht, wenn ich auch überzeugt bin, daß ich direkt Anlaß dazu gegeben habe: daß Du denkst, ich rede von Kunst; ich habe bei meinem Reden nur die Form, d. h. die Mittel der Kunst im Auge; ob es nun eine „Sünde wider den heiligen Geist“ ist, über die Form nachzudenken, — das ist so schwer mit ja oder nein zu beantworten. So ohne weiteres wird mich niemand überzeugen, daß z. B. Mantegna oder Bellini (erinnere Dich an seine Londoner Bilder!), Meister Bertram oder der Erbauer des Straßburger Domes oder Delacroix nicht stündlich in ihrem Leben um die Form gebangt und gerungen haben. Daß sie Künstler waren und von Kunst wußten, war ihre Seligkeit und ist auch die meine; aber die Form war ihr tägliches Studium und ihre Qual. Die schenkt der liebe Gott uns nicht. Musikalische Schöpfungen will ich nicht hereinbeziehen; sie bleiben mir in ihren reinen Gebilden (wie Bach, oder die drei letzten Symphonien Beethovens oder die katholischen Hymnen der früheren Italiener) ein Mysterium, über dessen formales Entstehen ich mir keine Gedanken zu machen getraue (ich will es auch gar nicht), — während mir sentimentale oder äußerliche (d. h. formal allzu durchsichtige) Musik oder auch reine Musik sentimental gespielt, gar keine Freude macht, schon aus dem Grunde, weil ich hier vom Formalen gar nichts verstehe und mir daher gewisse Freuden und Befriedigungen versagt sind, die z. B. ein Klee doch noch mit Recht aufnimmt. Was K. über Beethoven sagt, ist ja wörtlich das was ich in den letzten Jahren so oft gesagt habe; erinnerst Du Dich noch, wie ich einmal dringend nach Mozart verlangt habe, (Du weintest damals darüber, August war dabei), weil Mozart sich reiner, unpersönlicher ausdrückt. Das thut er, soweit ich ihn kenne, freilich nicht immer; vieles an ihm ist spielerisches Rokoko und zwar gerade deswegen unrein, weil es so unglaublich kunstvoll und geistreich ist und nicht naiv, wie manchmal Rameau, der einem eben stille Freude macht, wie ein Rokokozierat, sehr reines Kunstgewerbe. Das gibt es freilich heute nicht, außer vielleicht in Picasso und manchem Légers, überhaupt den Franzosen! Heute steht jede Kunstäußerung vor dem Entweder-Oder. Und darum hast Du so recht mit Deiner Sehnsucht und Forderung, zum zeitlosen Urklang zurückzusteigen. K. sagt: wenn ich Chinese bin, sage ich es chinesisch, wenn ich 1915 lebe, — 1915. Das ist so wahr, aber leichter gesagt als gethan, nämlich das „1915 leben“! Dazu muß man vielleicht die Aphorismen und noch bessere, gründlichere durchdenken und geistig viel umfassen; sonst lebt man irgendwann und -wo und hängt in der Luft. Man darf das heilig anvertraute biblische Pfund nicht nur wie ein frohes Evangelium in der Tasche tragen, (wie es momentan Du und vielleicht K. thut und mit Euch viele reine Künstlerseelen, die nie zum Schaffen kommen, weil sie vielleicht zu rein und keusch sind), sondern mit dem Pfund handeln nach der Bibel. Um eins bet ich freilich: daß der „Betrieb“ meine Seele nie mehr einfängt. Nur das nicht mehr; und ich bin so froh, daß Du mir dabei helfen willst. Der Gedanke an ihn ist mir gräßlich.

Ich freu mich sehr auf den Verkehr mit K. Wie schmerzlich, auch für Dich, daß er jetzt fort muß. Schick ihm öfters was; er wird es sicher sehr gut brauchen können, mehr als ich. Auch wenn es ein bissel was kostet; das macht nichts.

Seine Idee, daß die Nächstenliebe die einzige geheime Religion von heute ist, — das ist das Einzige, was von Deinen und seinen Worten nicht in meine Seele eingeht; außer man faßt den Begriff der Hingabe und Selbstverleugnung so weit, daß es schließlich ein Streit um Worte wird. Gerade reine Kunst denkt so wenig an die „andern“, hat so wenig den „Zweck“, die Menschen zu einigen wie Tolstoi sagt, verfolgt überhaupt keine Zwecke sondern ist einfach sinnbildlicher Schöpfungsakt, stolz und ganz „für sich“! Ich schrieb Dir glaub ich schon einmal darüber; verliere Dich nicht ganz in das Riesenmeer Tolstoi’scher Gedanken; ich verachte sie gar nicht, ich freu mich, sie jetzt bald zu lesen, nach jahrelanger Pause; aber lies Du jetzt einmal — Nietzsche: Jenseits von Böse und Gut — Genealogie der Moral; der Antichrist und Morgenröte (bei Paul). Ich will Dich ja nicht quälen; Du kannst es auch später einmal thun, wenn Du jetzt nicht in Stimmung bist. Dieser kurze Brief soll auch keine erschöpfende Antwort sein auf Deine langen Briefe, sondern zunächst und vor allem meine freudige Zustimmung zu dem künftigen Leben sein, das Du Dir für uns beide und mein Schaffen erträumst; Deine Briefe waren wirklich wie ein Weckruf; und dann kurze verstreute Gedanken, die mir zunächst beim Lesen gekommen sind. Nächstens mehr, mein liebes tapferes Weib. — — — — —

Ostersonntag 15.

L., heut am Ostersonntag mußte ich so lebhaft an Ried denken, an die Büsche am Bach, die jetzt sicher schon ihren Frühlingsschimmer haben, an die unzähligen Leberblümchen und Anemonen und Blättchen, die nun alle kommen; wie fabelhaft muß es sein, dies alles einmal wieder im Frieden beobachten und miterleben zu können, das große Wachstum unter dem fruchtbaren „Osterwasser“, das doch auch von jeher als besonders heilkräftig angesehen wurde. (Man schöpfte aus den fließenden Frühlingsbächen und bespritzte damit seine Liebsten, um ihre Liebe zu erregen und ihre Schönheit dauernd zu machen!) Ostern hatte für mich immer etwas höchst Feierliches und Bewegendes, mehr noch als Weihnachten, vielleicht weil es in seiner Stimmung und Bedeutung heidnischer und älter ist. Nächstes Jahr wollen wir uns an allem freuen, so gründlich und feiertägig, als wir nur können. — Was ist wohl mit Hanni? Ist sie trächtig? Beobachte mal, ob ihr Leib eckig wird, links stärker als rechts; man merkt es auch am Atmen, linksseitlich — unten, (Leibatmung); beobachte sie mal. Wie fein, daß Bauer die Bäumchen jetzt doch noch geschützt hat. Wenn sie nach zwei Jahren festgewurzelt sind und oben gesund austreiben, kann man die unteren Zweige den Rehen ruhig preisgeben; nur der Stamm selbst muß dauernd geschützt bleiben. Wenn doch die Obstblüte heuer wieder gelänge; Du mußt mir immer schreiben, wie es damit steht.

Einliegend sind wieder ein paar Wintersachen, die ich nicht mehr benötige, dazu leere Büchsen und Fläschchen und ein kleines Väschen für Dich; der Fuß ist gekittet, hoffentlich hält er gut. Stell Dir immer ein paar Blümchen hinein.

6. IV. 15.

L., gestern Abend kam Dein lieber guter Brief vom 1. IV. Ich kann Dir gar nicht sagen, wie sehr und ganz ich mit Deinen Ideen gehe und besonders künftig gehen will. Es macht mich auch stolz, daß Du errätst, daß ich vieles von dem, was Du sagst, schon immer als tiefen Grundsatz, vor allem in meinem Verhältnis zu anderen Menschen, in mir getragen habe. Gerade diese Geistesrichtung hat sich in mir während dieser Kriegszeit außerordentlich gestärkt. In meinem Verhältnis zur Kunst dachte ich, oder besser gesagt: fühlte ich auch immer so, aber ich handelte nicht immer danach; das weiß ich, daß ich erst noch dazu kommen muß. Der selbstquälerische Schaffensprozeß ließ mich so viel Umwege gehen, die vielleicht nicht nötig waren und meinem Schaffen mehr Hemmungen bereiteten, als Förderung und Reinigung. Hier muß ich umlernen, d. h. vom reinen Lernen zum reinen Fühlen kommen und mich immer mehr auf das reine Gefühl verlassen. Ich glaube fest, daß es mir leicht wird, wenn ich wieder heimkomme; die Zeit hat mich so vieles gelehrt, mehr und vor allem anderes als Du denkst und aus den Aphorismen schließen zu können glaubst. Gerade sie sind für mich, sowie sie jetzt mir in der Erinnerung erscheinen, eine Art Abrechnung, ein zum-Schlußkommen einer unendlich langen, mich seit Jahren quälenden Denkarbeit; das Ergebnis scheint Dir „äußerlich“; wörtlich genommen ist es wohl auch äußerlich; aber das äußerliche Ergebnis kann doch nach innen schlagen; ich hoffe es jedenfalls, auf Grund des Befreiungsgefühles, das ich jetzt so oft habe. Es hilft nichts, hier viele Worte zu machen; man dreht sich dabei nur im Kreise, da man mit Worten keine Werke vorwegnehmen kann. Das „lebendige Gefühl“, von dem Du immer sprichst, versteh ich jetzt so gut; ich werde ganz in ihm leben und an nichts sonst denken. Die Arbeitszeit, die mir bleibt, ist zu kurz, um sie an die „Welt“ zu verschwenden. Was ich in Artikel I schrieb, scheint mir noch immer nicht „ein unwahrer Trost“, wie Du ihn zu nennen scheinst, sondern seine einzige und wahre Erklärung, trotz allem und allem. Gerade, was mit Dir und mir als Resultat erzeugt wird, beweist mir an einem kleinen Beispiel, daß ich nicht fabuliere mit dem Leidensopfer und der Reinigung. K. hat wohl insofern recht, daß der Krieg jetzt doch nichts anderes ist als die bösen Zeiten vor dem Kriege; was man vorher in der Gesinnung beging, begeht man jetzt mit Thaten; aber warum? Weil man die Verlogenheit der europäischen Sitte nicht mehr aushielt. Lieber Blut als ewig schwindeln; der Krieg ist ebensosehr Sühne als selbstgewolltes Opfer, dem sich Europa unterworfen hat, um „ins Reine“ zu kommen mit sich. Alles, was drum und dran ist, ist gänzlich äußerlich und häßlich; aber die hinausziehenden und die sterbenden Krieger sind nicht häßlich. Da trügt Dich Dein Gefühl, weil Du nicht weit genug fühlst. Sieh lieber ganz weg vom Krieg, so gut es Dir möglich ist, wenn Du sein „Bild“ nicht ertragen kannst, aber erkläre ihn nicht für eine Dummheit! Denn das bedeutet nicht: dem Krieg ins Gesicht sehen, sondern: nichts sehen, wo doch etwas ist, und zwar etwas sehr Großes und Furchtbares.

Dank für die Blumen im Brief; sie freuen mich immer so. Einliegend Brief von Lisbeth. — — — — —

Auf K. freu ich mich sehr. Was Du von seiner Wohnung sagst, ist so nett. Hoffentlich kommt er heil zurück. Was macht eigentlich Deine Stickerei? Du schriebst lange nichts mehr davon. Auf die bin ich nämlich sehr neugierig.

7. IV. 15.

L., in Deinem lieben langen Brief vom 29. sagst Du Deine Gedanken viel klarer und reifer als in den anderen; ich verstehe Dich jetzt sehr gut; im Grunde drückst Du den Kern und tiefsten Sinn meiner Sehnsucht ganz klar und erschöpfend aus und ich fühle gut, wie vieles in den Aphorismen daneben tappt, wenn auch oft vielleicht mehr durch die Wortwahl als den Sinn; ich erschrecke jetzt über manches, was ich geschrieben habe; das muß ja so wie ich es ausdrückte, einen Unsinn ergeben und vom Kern der Kunst ablenken, statt hinzuführen; ich schreib Dir noch ausführlicher; diese Karte soll Dir nur erstens sagen, daß ich II mit Freuden zurückziehe; mach Dir darüber gar keine Gedanken; Du weißt wie leicht ich verfehlte Werke zerschneide. (An den Aphorismen hoffe ich aber vielleicht noch einmal arbeiten zu können, gerade auf Grund Deiner Briefe. Aber jetzt noch nicht. Sie sind für mich schon eine Art „Werk“, nicht Worte, sollen es wenigstens nicht sein). Dann zweitens Dank für den famosen Atlas, der mich riesig freut; er ist ganz das was ich wollte. — — — — —

Ja, der Meister des Marienlebens! Die namenlosen gotischen Meister, — das sind die reinsten. Du hast so recht. Die Kunst ging an der vergiftenden Krankheit des Individualitätskultus zugrunde, am Wichtignehmen des Persönlichen, an der Eitelkeit, davon muß man gänzlich loskommen. Dann ist man frei und hat Boden unter sich.

— — — — —
Dein
Frz.

Fortsetzung am 8. IV. 15.

Gestern erhielt ich Deinen langen Brief, der so klar und gut alles sagt, was Du meinst; ich antwortete Dir gleich mit einer kurzen Karte, die Dir meine freudige Zustimmung sagte. Es wundert mich eigentlich, daß Du mich immer noch dahin verstehen willst, daß nach mir Kunst: Form sein soll, was gewiß falsch ist. Form ist die natürliche Folge eines Gefühls wie die Haltung und Gebärde die Folge und Äußerung eines Charakters ist. Ein wirklicher Charakter denkt auch nicht: ich muß mich so oder so halten, benehmen, kleiden, — er thut es eben. Das ist für ihn Selbstverständlichkeit, sogar Unbewußtheit. Im Ursinn und Prinzip ist es in der produktiven Kunst auch so, sicher z. B. in der primitiven Kunst, (z. B. mein Negerbeil), in der byzantinischen, vormexikanischen usw. Mit der modernen Kunst (der „modernen Menschheit“), ich denke mir sie ungefähr ab 14. Jahrh. begann der sogenannte „Fortschritt“, ein ungeheures, auch heute noch lange nicht abgeschlossenes Streben nach Erkenntnis mit allen Krankheiten, Eitelkeiten, aber auch allen Wundern Europas. Dein Eindruck ist so wahr, den Du in der Pinakothek hattest: es gibt in der europäischen Kunst ganz ganz wenig völlig reine Bilder. Fast überall steckt die Grimasse der Eitelkeit oder der Pedanterie, der rationalistischen Überlegung, der Frivolität und selbst bei den besten: das Allzupersönliche (was sich in früheren Jahrhunderten in der sogenannten „Schule“ ausdrückte, das Meisteratelier). Die „keusche Majestät“, die mir vorschwebt, ist genau die Abkehr von all diesen Grimassen. Aber ich sehe wohl ein, daß ich immer zu sehr von einer formalen Abkehr geredet habe, während sie nur im Lebens-Gefühl vor sich gehen kann. Wenn man mich verstehen will (d. h. auf dem Boden steht, auf dem Du jetzt stehst), kann man mich schon auch in Deinem Sinn verstehen; z. B. den Aphorismus über das Was und Wie. Deutlich genug rede ich hier, daß nur der Inhalt (Lebens-inhalt) wesentlich ist, das Wie ganz gleichgültig, oder besser gesagt: die Folge des Inhaltes (Gefühles). Im Grunde stehe ich mit meiner Sehnsucht von jeher auf diesem guten Boden; immer träumte ich von unpersönlichen Bildern; ich hab eine Abneigung gegen Signaturen. Ich hab auch gar nie das Verlangen z. B. die Tiere zu malen, „wie ich sie ansehe“, sondern wie sie sind, (wie sie selbst die Welt ansehen und ihr Sein fühlen). So vieles in mir kommt Deinen Ideen entgegen, auch in den Aphorismen; nur hab ich mich sehr mangelhaft und unfertig ausgedrückt; es fehlt in ihnen der innere Drehpunkt; ich bin mir erst jetzt durch Deine Briefe klar geworden, wie ich alles sagen müßte.

Der Tolstoi ist noch nicht angekommen, aber der famose Atlas, der ganz das ist, was ich wollte. Schönen Dank. —

Über den Krieg denk ich noch immer nicht anders. Es erscheint mir einfach flau und unlebendig, ihn als etwas Ordinäres und Dummes zu nehmen. Artikel II kannst Du mir mal schicken; ich bin ganz zufrieden, wenn er nicht gedruckt wird. Die Gedanken über das Europäertum sind halb; wie Du ganz richtig sagst: auch noch zu sehr hinter dem europäischen Zaun, und eigentlich nicht meine Sache. Das ist mir der Hauptgrund, ihn nicht zu drucken. —

Mit den Glasbildern hast Du recht. Der Durchschnitt ist wohl „unpersönlich“ und insofern rein, aber statt des tiefen bewegenden Gefühls ist ein Schema der direkte Ursprung der einzelnen Bilder. Da dieses Schema aber von tiefen, intuitiven (Volks-)schöpfungen abgeleitet ist, behält es für uns doch noch einen gewissen Kunst- und Gefühlswert. Du weißt, warum ich mich oft so sträubte, schwache aufzuhängen. —

Wir haben momentan äußerst unruhige und schwere Tage, — Du wirst es an der Sprunghaftigkeit meiner Briefe merken; sie sollen Dir nur meine tiefe Zustimmung ausdrücken. Ich verarbeite und erlebe diese „Erneuerung im Geiste“ mehr als es die Briefe merken lassen. Vor allem möchte ich Dir einmal über die „Natur“ schreiben (die letzten Aphorismen). Hier handelt es sich mir nur um das Lebensgefühl, das Wie ist mir dabei ebenso gleichgültig als unklar, — es wird kommen, wenn ich in diesem merkwürdigen Gefühl male. Wenn ruhige Tage kommen, versuche ich mal, davon zu schreiben. Ich weiß nicht, ob ich kann, gerade weil es sehr und ganz Gefühlssache ist, ein neuer Liebesinstinkt der armen Natur gegenüber.

— — — — —
Dein
Frz.

12. 4. 15.

L.,

Je gründlicher und öfter ich Deine letzten Briefe lese, desto zwingender erscheint mir ihre innere künstlerische Logik. Ich streifte in den Aphorismen die Wahrheit an allen Seiten, ohne jemals das „Eigentliche“, Wesentliche zu sagen; sie bedeutet eine völlige Abkehr im Sinne des Gleichnisses vom reichen Jüngling; erst wenn die ganz vollzogen ist, kann man prüfen, ob die Gefühle, die überbleiben, wertvoll genug sind, um auch den Anderen etwas zu bedeuten. Bei den allermeisten wird es nicht der Fall sein; ihre Bilder würden gänzlich reizlos oder besser gesagt: sie würden aufhören, welche zu malen. Die Beschaulichkeit, die reinliche Zurückhaltung, das Gewissen würde sie vom unreinen Produzieren abhalten. Nach diesem edlen Maßstab gemessen bleibt von der gesamten europäischen Kunst äußerst wenig übrig! Der entwicklungseitle Geist der modernen Jahrhunderte war der Kunst, wie wir sie träumen, allzu abhold. „Kunst ist nur ganz selten da“. Ich denke viel über meine eigene Kunst nach. Der Instinkt hat mich im großen und ganzen auch bisher nicht schlecht geleitet, wenn die Werke auch unrein waren; vor allem der Instinkt, der mich von dem Lebensgefühl für den Menschen zu dem Gefühl für das Animalische, den „reinen Tieren“ wegleitete. Der unfromme Mensch, der mich umgab, (vor allem der männliche) erregte meine wahren Gefühle nicht, während das unberührte Lebensgefühl des Tieres alles Gute in mir erklingen ließ. Und vom Tier weg leitete mich ein Instinkt zum Abstrakten, das mich noch mehr erregte; zum zweiten Gesicht, das ganz indisch-unzeitlich ist und in dem das Lebensgefühl ganz rein klingt. Ich empfand schon sehr früh den Menschen als „häßlich“; das Tier schien mir schöner, reiner; aber auch an ihm entdeckte ich so viel gefühlswidriges und häßliches, so daß meine Darstellungen instinktiv, aus einem inneren Zwang, immer schematischer, abstrakter wurden. Bäume, Blumen, Erde, alles zeigte mir mit jedem Jahr mehr häßliche, gefühlswidrige Seiten, bis mir erst jetzt plötzlich die Häßlichkeit der Natur, ihre Unreinheit voll zum Bewußtsein kam. Vielleicht hat unser europäisches Auge die Welt vergiftet und entstellt; deswegen träume ich ja von einem neuen Europa, — aber lassen wir Europa aus dem Spiele; Hauptsache ist mein Gefühl, mein Gewissen, wie Du sagst. Mein Gewissen sagt mir, daß ich vor der Natur (im weitesten Sinn) vollkommen richtig und zwingend fühle; und wenn ich nur von meinem Lebensgefühl ausgehe, sie mich nicht mehr angeht und berührt wie die Kulissen eines Theaters, mit der man eine Dichtung, drapiert. Die Dichtung selbst stammt aus ganz anderen Dichter- und Urgründen; und will ich sie ausdrücken, so wie ich sie fühle, darf ich nicht mit Kulissen arbeiten, sondern einen weltbildfernen reinen Ausdruck suchen. Ob es einen solchen gibt? Ob er je rein gefunden wird in der Malerei? In der Musik ist er gefunden worden, da hast du recht; aber wie schnell ist er wieder verloren worden! „Nichts konnten wir zwingen damit“, — das wollte ich sagen, die relative Erfolglosigkeit jenes frühen Sieges wollte ich mit jenem Satz ausdrücken. Kandinsky ist zweifellos jenem Ziel der Wahrheit nah auf der Spur, — darum liebe ich ihn so. Du magst ganz recht haben, daß er als Mensch nicht rein und stark genug ist, sodaß seine Gefühle nicht allgemein gültig sind, sondern nur sentimentale, sinnlich nervöse, romantische Menschen angehen. Aber sein Streben ist wundervoll und voll einsamer Größe. Du mußt aus dem Vorstehenden nicht schließen, daß ich jetzt nach meinem alten Fehler wieder beständig über die mögliche, abstrakte Form nachdenke; ich suche im Gegenteil sehr gefühlsmäßig zu leben; mein äußerliches Interesse an der Welt ist sehr keusch und kühl, sehr durchschauend, sodaß das Interesse sich nicht in ihr verfängt, und ich gegenwärtig eine Art negatives Leben führe, um dem reinen Gefühl Raum zum Atmen und zur künstlerischen Entfaltung zu geben. Ich vertraue viel auf meinen Instinkt, auf das triebhafte Produzieren; das kann ich erst wieder in Ried; aber dann wird es auch kommen; ich hab oft das Gefühl, daß ich irgend etwas Geheimnisvolles, Glückliches in der Tasche habe, das ich nicht ansehen darf; ich halte die Hand drauf und befühle es zuweilen von außen. —

Was Du von K. erzählst, ist sehr hübsch.

— — —
Dein Frz. M.

13. 4. 15.

L., wenn ich Zeit finde, sehe ich mir hier immer die Gärten an, meist sehr alte Anlagen von einem merkwürdig kühnen und dabei klugen, besonnenen Stil; die Art der Weganlage ist einfach vorbildlich, läßt sich aber natürlich nie nachbilden, da sie stets so vollkommen dem jeweiligen Haus und Gelände angepaßt ist, daß man nie zwei gleiche oder nur ähnliche Anlagen findet. Ich denke oft an Ried und wie wir das Grundstück einmal gliedern wollen. Alles hängt natürlich davon ab, ob wir die Nebenwiese bekommen oder nicht. Auch in der Beetanlage hab ich sehr merkwürdige Sachen gesehen. Alles treibt jetzt schon heraus; es ist ganz erregend, in einem solchen reichen alten Garten zu stehen, wo einen der Frühling mit Millionen kleinen Augen ansieht. Ich bin noch mehr als je in die Blumen und Blätter verliebt. Ich seh sie jetzt so anders an, irgend ein Gefühl von Mitleid ist immer dabei, eine Art Mitwissertum; man sieht sich einander an, stumm und mit der Geste: „wir verstehen uns schon; die Wahrheit ist ganz wo anders; wir beide stammen alle von ihr und kehren einst zu ihr zurück“. Mit Menschen kann man fast nie so verkehren; da stoßen immer die Ichs aufeinander; am wenigsten vielleicht noch bei Klee; — — — — —. K. scheint ja eher ein reiner Mensch zu sein; aber ich muß erst etwas von seiner eigenen Musik hören, auf die ich furchtbar gespannt bin. Ich bin in meinem ganzen Wesen so sehr produzierender Charakter (— es steckt wie eine Krankheit in mir), daß mir harmlose Güte im Leben wenig sagt. Vielleicht wenn ich älter und ruhiger werde; mir wurde bei meinen Gedanken über K. so viel wohler, als Du schriebst, daß er ganz produzierender Mensch sei und sich quält, — dann geht es schon immer besser im gegenseitigen Verkehr. Ich werd ihn sicher gern haben. Ja, einen Freund haben! Wieviel hab ich heimlich um * * * gelitten; daß mir dieser Charakter so entgleiten mußte! Mit Kandinsky werde ich immer eine Art Männerfreundschaft halten, trotz allem und allem; freilich: an eine Zusammenarbeit glaub ich auch nicht mehr. Aber ich muß so viel an ihn denken. Ich weiß, daß dieser Mensch innerlich fürchterlich leidet. Sein ganzes Wesen, vor allem, wenn ich jetzt an ihn zurückdenke, verrät es. August’s Tod ist eine unersetzliche Lücke für mein Leben. Seine Kunst strahlt zwar nicht stark zu mir herüber, — aber der Mensch!! Er war meine „Erholung“ im Jahr. Wenn er da war, hatte man „Ferien“! Was wohl aus Lisbeth wird? — — — — — Wenn nur * * * glücklich wiederkehrt! Das Schicksal abenteuert wirklich sehr bedenklich mit seinem teuren Menschenmaterial. Eine derartige Sterbelust und Opferdrang hat doch die Menschheit noch nie erfaßt wie heute. Die Disziplin ist ja nur die Organisation dieses Dranges, dieses Herandrängens an den Tod. Die Verwundungen sind die Enttäuschungen: Das Ich erwacht und bemerkt, daß es nichts gewonnen, aber seinen dummen Finger oder Arm verloren hat. Das ist das Satyrspiel der großen Tragödie. Aber die Toten sind unsagbar glücklich. Wenn aus diesem Krieg kein Dichter und keine Musik hervorgeht, dann gibt es überhaupt keine mehr. Du schüttelst sicher wieder den Kopf und meinst: ich fasle; aber ich sag Dir: Du weißt nichts vom Krieg. Vielleicht ist es auch so, daß ich ihn nicht anders sehen will oder kann; beim Anblick dieses Kämpfens und Sterbens geht es mir genau so, wie wenn ich die Natur ansehe, in der es auch nicht anders zugeht; aber man fingert eben nicht kurzsichtig an ihrem Bilde herum, sondern sieht ganz weit hinter nach dem Geist, der das einzig Lebendige und Mögliche an dem allen ist.

Wir haben kolossal angestrengte Tage und Nächte hinter uns, aber es wird hier nicht mehr lange dauern.

— — — — —

18. IV. 15.

L., ich hab den Tolstoi jetzt vollständig (aber gewiß nicht zum letztenmal) gelesen und habe genau wie Du das unbeirrbare Gefühl, daß in dem Buche „die Wahrheit“ oder wollen wir sagen: „eine große Wahrheit liegt“. Sie für uns oder für die Allgemeinheit, wie ich die „Allgemeinheit“ fühle, aus diesem Buche herauszuschälen, ist eine ungeheuer schwere und verantwortungsvolle Aufgabe, an der bis jetzt noch sehr wenig geschehen ist. Das ist kein Vorwurf für Tolstoi; sein Buch ist eine moralische Riesenleistung und es ist im Grunde selbstverständlich, daß er als Einzelmensch bei dieser Arbeit, bei der ihm niemand geholfen hat und die er mit den einseitigen Kräften seiner zufälligen Begabungen und Schwächen lösen mußte, einseitig und allzu persönlich vorgegangen ist. Ein einzelner Mensch kann das Problem gar nicht erschöpfend und allgemeingültig wie einen Codex festlegen. Ich habe, um einen Maßstab für die Tolstoi-Gedanken zu gewinnen, z. B. das Evangelium Markus gelesen, der herbste der vier Evangelisten. Lies z. B. einmal das 4. Kapitel! (Vers 12!) und das unheimliche 5. (Vers 30 usf.) und 7. Kapitel (ab Vers 14 und Vers 24!). Es sind nicht einzelne Dinge oder Einwendungen gegen Tolstoi, die ich damit vorbringen will, nur den Maßstab der Qualität seiner Ideen; Tolstoi wirkt, nachdem man diese Kapitel in ihrer atembeklemmenden Großartigkeit gelesen hat, merkwürdig soziologisch, Weltverbesserer, Glücksschwärmer. Er sieht das „Reich Gottes“ merkwürdig friedlich-ackerbaulich, als Glücksstaat, an und noch mehr als: anständigen Vernunftstaat. Tolstoi ist gegen Jesus gehalten ein ganz schwacher Menschenkenner; er hat seinen Idealtyp und einen andern kann er sich vernünftigerweise nicht vorstellen; aber „die Welt ist tief; und tiefer als der Mensch gedacht“. Das ist nicht Mystizismus von mir (oder Daumier oder Klee oder Archipenko — ich denke an die paar ganz ernsten Sachen von „uns“), sondern das ist unser heiligstes Lebensgefühl. Es ist einfach thöricht, von solchen Menschen sagen, daß ihre Kunst „nur um einiger weniger krankhafter Mäzene willen, die so einen Kitzel bezahlen“, geschaffen wurde. Tolstoi verwechselt eine an sich gewiß schädliche und unsittliche Begleiterscheinung mit den Ursachen der Dinge. Mit dieser Folgerung verdirbt er vieles in seinem Buch. Etwas anderes ist es, wo er behauptet, daß wir „verbildet“ sind, Krankheits- und Dekadenzprodukte unsrer Zeit. Darüber denk ich jetzt viel nach. Ich glaube, man darf diese Behauptung ebensowenig vorschnell und stolz zurückweisen als sie leichtsinnig bejahen. Daß „exklusive“ Künstler wie Daumier, van Gogh und Hokusai sich in ihrem tiefen Weltgefühl in Einigkeit begegnen oder z. B. der tiefe Hang der modernen Sucher, durch das „Abstrakte“ allgemein Gültiges, Einigendes auszudrücken (denn diese Tendenz liegt unbedingt in unsern, den andern, die stets bisher den persönlichen Einzelfall in der Kunst zu suchen gewöhnt waren, so rätselhaften Werken), — das ist vielleicht eine ebenso wichtige und große Sache als die Einigung von Hunderttausenden auf die Melodie von „stille Nacht, heilige Nacht“ oder die rührenden Volkslegenden und Märchen.

Ich dränge mein Gefühl hier gar nicht zu einer raschen und gründlichen Entscheidung, die nur das Produkt eines Lebenswerkes und vollen Lebens sein kann, und nicht das Resultat des „gesunden Menschenverstandes“, an den Tolstoi immer wieder appelliert.

Andrerseits: so unendlich viel, was Tolstoi sagt, ist so unbedingt wahr, unabweislich, daß man absolut nicht daran vorbeigehen kann. Z. B. S. 245-46 über die moderne Romanliteratur und Musik. („Jede Melodie ist frei und kann von allen verstanden werden; aber kaum ist sie mit einer gewissen Melodie verbunden und durch sie verbaut, so wird sie nur Menschen, die sich mit dieser Harmonie bekannt gemacht haben, zugänglich usw.“) Oder: „nehmen sie bei den besten Romanen unsrer Zeit die Einzelheiten fort und was bleibt dann übrig?“ Das gleiche ist von den Impressionisten zu sagen. Die allermeisten legen das Gewicht auf das Wie und nicht auf das Was. Und bei uns Kubisten etc. ist das leider noch mehr wahr, gewiß mehr wahr, als wir es uns eingestehen wollen. Wir müssen es uns aber in jedem Fall offen eingestehen. Dieser Gedanke wird mich von nun stets beim Arbeiten und beim Nachdenken über meine und fremde Arbeit beherrschen.

Der einzige Künstler unsrer Tage im Sinne Tolstoischer Volkskunst ist und bleibt natürlich Rousseau, wenngleich dem reinen Geist nach van Gogh gewiß nicht weniger Anspruch auf diesen Ehrenthron hat. Aber van Gogh ist ja mit wenigen Porträtausnahmen für die Menge gänzlich unverständlich!! Warum? Meine Antwort ist: weil es nicht wahr ist, daß alle Gefühle allen gemeinsam und verständlich sein müssen. Der Mensch ist kein einmal festgelegter Typus, mit dem man so einheitlich und über einen Leisten verfahren kann, sondern unterliegt ganz der Wandlung und der Rangordnung, die die physikalische Natur in allen ihren „Betrieben, Werkstätten“ anwendet, um etwas zu fördern und um wachsen zu können. Differenzierung und Absonderung scheint mir eher gerade der Schlüssel der menschlichen Lebensenergie zu sein. Aber ich kann darüber nicht mit so wenig Worten reden. Jedenfalls ist für mich das christliche, das Jesus-Problem viel komplizierter, dunkler und herzensschwerer wie Tolstoi es aufzufassen scheint. Rousseau ist richtige christliche Volkskunst, Meister Bertram auch. Grünewald, Greco, Delacroix wirken neben diesen sehr affektiert und unehrlich, und in ihrem Aufwand von großen und kleinen Mitteln unnötig. Könnte diese Unstimmigkeit des Nebeneinander nicht davon herrühren, daß man zwei Welten mit ganz verschiedenen Maßverhältnissen mit gleichem Maßstab mißt? d. h. mit dem Tolstoi-Maßstab des Einen? Laß Dich nicht verleiten, all diese Fragen zu einschichtig zu nehmen. Die Welt hat viele Schichten. Der Mensch ist in der weiten Natur ebenso Übergangsprodukt wie das Tier oder die Pflanze; wenn er die Liebe, gegenseitige Achtung und Hilfe als größten einigenden Lebensgrundsatz allmählich annimmt, so thut er das wahrscheinlich auch aus der inneren Not seiner Entwicklung. Aus Michelangelo (den Tolstoi unbedingt verpönen muß), Hölderlin, Beethoven, Cézanne, spricht eine unendliche Weltliebe, Drang nach Verständigung; aber jeder hatte seinen Maßstab; der Adler kann keine Spatzen anführen, — er fliegt ihnen mit drei Flügelschlägen davon.

In manchem hat Tolstoi natürlich auch über die Großen gewiß richtig gedacht; z. B. den späten Beethoven in gewissen Werken; mir schwebt da besonders das berühmte cis-Moll-Quartett vor, das ich zweimal (von Joachim und später glaube ich von den Böhmen) hörte. Mir wurde es jedesmal langweilig, weil es mir ganz künstlich gemacht schien. Das erstemal dachte ich natürlich, daß ich zu dumm bin, es aufzufassen; das zweitemal schwor ich mir, es nicht ein drittesmal anzuhören; es ist inhaltlich fad und in eine künstliche Stimmung und ungeheure Breite gebracht. Jetzt würde ich es natürlich erst recht noch einmal hören, um mein Urteil zu prüfen. Gänzlich unverständlich ist mir, wie man den erotischen Einschlag in reinen Kunstwerken, wie dem Violinkonzert, Kreuzersonate, 7. und 9. Symphonie, Michelangelo, die Griechen usw. so hassen kann, wie Tolstoi es thut. Wie kommt er dazu, überall das Geschlechtlich-Häßliche zu sehen? Das ist auch krankhaft von seiner Seite; am Ende traut er sich auch einmal nicht mehr durch einen Blumengarten zu gehen. Gegen eine solche Auffassung wende ich mich mit aller Leidenschaft. Dieser Punkt läßt mich sehr zweifeln an der Gesundheit Tolstoischen Denkens. Der erotische Witz sowohl wie die erotische Erregbarkeit und Leidenschaft sind Grundelemente des menschlichen Fühlens (gerade des einfachen, geraden Menschen), die man nicht durch christliche Liebe zudecken oder abschnüren kann und darf und soll.

A propos: ich bin Vizewachtmeister — nichts anderes. Deine übrigen Befürchtungen sind ganz grundlos. * * * bat um äußersten Preis von gelber Kuh; ich schrieb ihm den Netto-Kriegspreis für mich: ..., gänzlich unverbindlich für später. Wenn in diesen Zeiten jemand kauft, würde es mich für diesen Preis nur freuen.

Gute Nacht, mit einem Kuß

D. F.

27. 4. 15.

Die Siegesnachrichten dieser Tage regen mich ungeheuer auf. Jetzt muß es vorangehen. Die Frühlingstage sind fabelhaft. Gestern führte ich meine Wagen wieder in der Mondnacht vor; fast der ganze stundenlange Weg ist überdacht von blühenden Kirschbäumen; die schweren weißen Zweige wiegen sich so seltsam im Nachtwind; ich muß oft an die längst entschwundenen Blütennächte am Athos denken! Ich bin glücklich, die schmerzliche Melancholie jener Jahre überwunden zu haben; damals stand wirklich das dumme Ich im Mittelpunkte aller Gefühle, — heute hat das Ich zu horchen und wach zu sein, ohne Selbstansprüche. Ich lese jetzt den Tolstoi nochmals mit großer Aufmerksamkeit und lege Dir ab und zu Zettel in die Seiten. Mein erster Eindruck wird nur bestärkt: seine Gedanken bergen die für uns entscheidende Wahrheit, aber seine Vernunft-Logik ist ein ganz unzulängliches Werkzeug, diese Wahrheit herauszustellen und zu definieren. Er arbeitet mit einer gesunden praktischen Lebenslogik, die ihn da, wo er sie auf wirklich geistige Probleme anwendet, ganz in die Irre führt. Dazwischen leuchten immer wieder echte Wahrheiten, die aber wie Kometen zufällig die Bahn seiner logischen Schlüsse streifen, ohne inneren Zusammenhang. Du wirst mich schon verstehen, wenn Du das Buch mit meinen Bemerkungen nochmals liest. — Ich lege Dir einen Zeitungswisch über Händels Oratorien bei, — vielleicht regt er Dich zum Nachlesen und Nachspielen im Auszug an.

Daß Hanni wirklich trägt, ist köstlich. Bring ihr möglichst viel durcheinander von Strauchzweigen und Waldgrün mit; frag auch Niestlé ev. wegen gewisser Wurzeln usw. Die Tiere suchen sich in solchem Zustand gewiß bestimmte Nahrung zur Milcherzeugung etc., Klee, Berberitzen, Haselnuß usw. Könnt ich doch dabei sein!! Aber ich bin jetzt voll Zuversicht.

Mit liebem Kuß
Dein
F.

Grüße allseits!

16. V. 15.

L., — — — — — — — —

— — Um mich lege die Sorge wirklich ein bißchen ab. Mein verändertes mageres Aussehen geht sicher auf Seelisches zurück, das sich auch wieder ausgleichen wird. Mein Körper ist sogar von einer mir ungewohnten Elastizität und Leidensfreiheit; ich bin nicht einmal nervös. Von irgend welchen Störungen, wie bei * * * ist bei mir keine Spur. Ich verdanke es allerdings einer scharfen Selbstzucht (die * * *, wie ich ihn beurteile, sicher nicht geübt hat), daß ich mich von meinem bedenklichen Herbstzustand so erholt habe. — Ein anderes Thema: — —

— — — — —

Vieles geht mir ab; am meisten aber Du; und dann die Musik. Ich bin äußerst neugierig auf die „einfachen Stücke“, die Dir K. zum spielen gab. Ich werde mich zu Musik noch ganz anders einstellen als früher. Musik und Malerei sind doch ganz gleich, — man muß nur das Organ haben, das diese Gleichheit mißt und erkennt; es ist auch nicht notwendig, daß jeder dies Organ hat; aber wer dies einmal erfaßt hat, daß die beiden ganz gleich sind, wird diesen Gedanken nie mehr los. Unbegreiflich ist mir nur, was Kandinsky z. B. mit der Vereinigung der beiden bezweckt. Ganz abgesehen von der technischen Unmöglichkeit, das grundverschiedene äußere Material (Zeit und Fläche) der beiden Künste zusammenzuschweißen, ist es vor allem ein künstlerischer Nonsens und einfach langweilig, das Gleiche zweimal vorbringen zu wollen oder gar von den grundverschiedenen Materialien ein Stück von da und eins von dort zu leihen und daraus ein Ganzes machen zu wollen. Gar nicht zu verwechseln ist damit z. B. Musik mit Text wie z. B. Matthäuspassion oder ein vertontes Lied, — das ist genau dasselbe wie ein gegenständliches Bild; es bleibt ganz „Bild“, wie Musik ganz Musik bleibt trotz Text. Musik ohne Text gibt es nicht, er bleibt nur eben oft unausgesprochen, — Bachs Musik ist dafür klassisch. Ebensowenig gibt es abstrakte Bilder ohne Gegenstand; der steckt immer drin, ganz klar und eindeutig, nur braucht er nicht immer äußerlich da und augenfällig zu sein. Ich denke viel über diese Dinge nach; sie sind im Grunde so einfach; es lohnt so gar nicht, viel darüber zu disputieren. Es gibt da gar nicht viel zu disputieren. Schwer und wichtig ist nur das Eine: den Schaffensgrund in sich finden.

Für heute gute Nacht! Ich werde mit guten Gedanken einschlafen. — — — — —

— — —

18. V. 15. Nachts.

L....

Ich habe eine merkwürdige Lektüre zufällig in die Hände bekommen, die mich unsagbar tief berührt hat, gerade weil sie mich so ganz überraschend und entgegen meinen bisherigen Anschauungen über Missionswesen ergriffen hat: eine Biographie Livingstones! Ich bin ganz erschüttert davon. Ich lege das Büchlein bei, (— es gehört nicht mir, schicke es mir darum baldmöglichst zurück). Es ist schriftstellerisch ganz armselig, — aber der Gegenstand, diese mystische Einfachheit des wahren Genies, der durch das tiefste, furchtbarste Dunkel das Licht seiner Idee trägt, ist so überwältigend, daß die Form einerlei wird. Ich möchte kaum ein wissenschaftliches Buch über die Expedition Livingstones lesen, — allerdings wohl ein ausführlicheres als das vorliegende, vor allem eines, das mehr persönliche Worte und Notizen Livingstones enthielte; sieh Dich einmal im Buchhandel bei Lehmkuhl danach um, kauf es und schenke es Maman von mir aus, — später will ich es dann auch lesen. Von der Lektüre dieses Büchleins aus bin ich Tolstoi, dem wahren Tolstoi wieder viel näher gekommen. Das ist Größe und „Poesie durch sich“; die wenigen angeführten Worte Livingstones sind von einer so klangvollen riesigen Erhabenheit, wie auf dem Grabstein das Wort von der „offenen Wunde der Welt“ oder die Worte S. 25, das ist ein Leben! da kann man von einer That reden. Wir alle faulenzen. Man muß sich gänzlich opfern; nicht: „sich an die Säule seiner Idee lehnen,“ wie ich mich letzthin, glaub ich, ausgedrückt habe, sondern sein Kreuz tragen, an dem man für die Welt stirbt, — dann nur könnte einst auf unserem Grabstein die Mahnung an die Nachwelt stehen, für die man sich geopfert: „Ihr seid teuer erkauft, — werdet nicht der Menschen Knechte.“ (1. Corinth. 7, 23.)

Fortsetzung 22. V. 15.!

Inzwischen sind wir weit gereist; die neue Adresse ist wieder wie im Herbst; siehe auf dem Kuvert; wir sind wieder in unserer alten Gegend wie im Oktober-November, wenn auch nicht am gleichen Ort, aber unter ähnlichen Umständen. Es wird alles für mich immer traumhafter; wir hatten zum Abzug aus E. die Wagen hochgeschmückt mit Blumen und trabten nun so durch die gaffenden Dörfer wie ein Zug aus Dante’s Inferno; ich fühle dabei immer, daß eigentlich nur mein Körper reitet und ich ja ein ganz anderes Leben lebe, ich weiß nur nicht genau wo; ich bin jetzt so oft in solch einer Art Dämmerzustand, ähnlich wie im Traum, wenn man merkt, daß man nur träumt und doch trotzdem weiterträumt. Dieses Gefühl ist aber gänzlich unsentimental und unromantisch und noch weniger selbstquälerisch; vielmehr wie eine Thatsache, daß man zeitweise das Leben in mehreren Falten nebeneinander durchleben kann und die Einheit von Lebensfunktionen nur sehr locker und fragwürdig ist. Der Geist kann unbedingt auch ohne Körper leben. — — — — —

25. V. 15.

L., Du schreibst in einem Deiner guten Briefe „man sollte um der Sache willen, — um sie zu retten, alles ablehnen, was nicht dazu gehört“ und daß ein solcher Standpunkt das Heil für mich wäre. Du hast sehr recht, daher auch gegenwärtig die große Spaltung meines Wesens, die von dem ungewöhnlichen Leben und den ungewöhnlichen Ereignissen bestimmt wird. Ich lebe eigentlich drei Leben nebeneinander: das eine Leben des Soldaten, das für mich vollkommen Traumhandlung ist und bei dem ich beständig den sonderbarsten Ideenassoziationen und Erinnerungen unterworfen bin, z. B. als ob ich bei den Legionen Cäsars stünde, — das ist kein Witz; ich bin auch durchaus nicht krank, — ich „sehe“ uns plötzlich so, ganz genau, bis in alle Einzelheiten. So kommen mir auch die Bewohner der Gegend durchaus als Verstorbene vor, als Schatten (nach dem griechischen Hadesbild). Das sind gar keine Erlebnisse mehr für mich; ich sehe mich ganz objektiv wie einen Fremden herumreiten, sprechen usw.

Das zweite Leben ist schon eher „Erlebnis“, die Gedanken an Europa, Tolstoi, August, Ried, Bücher, die ich lese, Zeitungen und die Gedanken an die schon jetzt ganz sagenumsponnene Front der Riesenheere, die Fliegerkämpfe, (deren wir jetzt täglich Zeugen sind), meine Briefe, — in all dem steckt schon eine Wirklichkeit, in die ich wenigstens zuweilen meine Nase stecke und in der ich mich zuweilen wach, auf beiden Füßen und anwesend fühle, obwohl ich nie das Bewußtsein dabei verliere, daß dies alles für mich nicht wesentlich ist, nur Wege, Spaziergänge ohne Ziel, die man zur Erholung und „um sich zu fühlen“ und um nicht unthätig zu sein geht, um dann wieder zu sich nach Hause zurückzukehren, in sein eigenes gänzlich unsichtbares „Heim“. Und das ist das dritte Leben: das unbewußte Wachsen und Gehen nach einem Ziel; das Keimen der Kunst und des Schöpferischen, der Keim, den man nicht vorwitzig berühren darf. Alles andre wird für mich unwesentlich und gleichgültig, wenn ich über dieses eigentliche innere Leben brüte; wie der Vogel über seinem Ei, so sitze und brüte ich über diesem Leben, — und was ich sonst thue und denke, gehört gar nicht wesentlich zu mir. Der wahre Geist braucht gar keinen Körper zu seinem Leben, — vielleicht ist ein Körper seine äußerliche Bedingung (Incarnation), aber er ist nur wenig abhängig von ihm, kann sich von ihm zeitweise und besonders in seinen wichtigen, wesentlichen Stunden ganz von ihm trennen. Vielleicht wird Dir nicht ganz klar, was ich mit diesen Ideen ausdrücken will, sie sind ganz spontane Erkenntnis, — im übrigen eine Erkenntnis, die durch alle Religionen geht.

Diese Trennung ist keine Bedingung; in einem harmonischen Erdendasein wird sie überhaupt kaum fühlbar, — wenn ich nach Ried und zu Dir zurückkehre und arbeiten darf, werden sich hoffentlich meine drei Personen wieder hübsch eng zusammenschließen. Aber gegenwärtig laufen sie einzeln!

Wie geht’s mit dem Essen? Schmeckt es K. und ißt er auch ordentlich? Über den Klavierbetrieb bin ich sehr glücklich. — — — — —

Du bist enttäuscht — — — — —, — laß Dich davon nicht zu sehr in Deiner offenen Haltung beeinflussen. Dieses: sich geistig zurückziehen und „vorsichtig sein“ kann ich nicht gut finden. Man muß so lebendig sein, immer wieder und immer noch einmal von vorn anfangen zu können, auch im Leben und nie etwas nachzutragen, (— eine ganz unnötige Last, die man da „nachträgt“). Ich lasse die Menschen nicht so schnell aus.

Schade, daß es mit der Obsternte dieses Jahr nicht so reichlich wird, — wer weiß übrigens. Bei schwacher Blüte fällt nicht viel ab und vielleicht trägt der eine und andere Baum doch mehr, als man denkt. Die guten Schwälbchen sollen nur nisten; das bringt Glück. Auf Hanni werd ich immer neugieriger. —

— — — — —

Nun gute Nacht!
Dein Frz.

21. VI. 15.

L....

Heute kam Dein langer guter Bleistiftbrief. — — — — — — — — — — — Aber niemand darf sich im Glauben, dem „Wesentlichen“ näher zu sein, überheben; ich bin immer noch lieber gegen andere gutgläubig als gegen mich selbst. In einer Sache täuschst Du Dich immer in mir: Du denkst, ich sei da und dort „festgefahren“. Ich irre und finde das Gleichgewicht nicht, — das ist etwas ganz anderes. Ich habe viel größere, schrecklichere innere Hemmungen als Du; vielleicht weißt Du immer noch zu wenig über mich. Hast Du Dich nie ganz scharf gefragt, was es mit meiner Scheu, — sagen wir: vor „Penzberg“ oder vor „fremden Stuben“ auf sich hat? Was kann ich machen, daß da, wo Du die Wahrheit, das „Gewissen“ siehst, ich noch immer für meine Seele ein unlösbares Problem sehe? Das nennt man nicht „festgefahren“, — das ist etwas ganz anderes. Die Wunde dieses Problemes fließt, seit ich erwachsen bin; mein ganzes Malertum ist bisher nur ein Lösungs- oder besser: Rettungsversuch aus diesem für mich unlösbaren Problem gewesen. Ich bin Sozialist aus tiefster Seele, mit meinem ganzen Wesen, — aber nicht praktischer Sozialist. Das ist nicht lächerlich und keine Phrase. Wir werden viel darüber reden.

Die Zeit des Weltkrieges ist nicht böser als irgendeine Zeit des tiefsten Friedens; der schönste Friede war immer nur ein latenter Krieg; aber der Einzelne kann sich befreien und anderen dazu helfen — das ist der Sinn des persönlichen Christentums und Buddhismus und aller Kunst. Das ist natürlich auch wieder unpräzis, vieldeutig und viel zu schnell gesagt; ich finde die richtige Form nicht, es zu sagen; man bedient sich immer festgefahrener Ausdrücke, alter Gedankenformen; eine solche scheint mir auch Deine „Menschenliebe“; was ist das? geht sie auf Kosten der „Naturliebe“? Was lehrt uns die Natur?? Wissen wir, wo der Mensch steht im Natur- und Gottesreich? Unser ganzes Denken, der ganze Mensch muß endlich noch einmal und neu gedacht werden; es hilft nicht und reicht wenigstens heute nicht mehr aus, nur auf Christus zurückzugreifen. Je länger und hingebender man ihn liest, desto vieldeutiger wird er. Schon die Apostellehre begriff ihn nicht mehr und wirkt auf mich ganz epigonenhaft. Meine Gedanken kreisen stets um dies Thema von je und je, wenn ich auch die größten Umwege um das mir noch immer unsichtbare Ziel gelaufen bin. Daß Du die wirklich belustigende Prophezeiung aus Plato auf mein eigenes Denken beziehst, hat mich selbst belustigt. Daß die rein literarische Phantasie Platos in keinem wahren Zusammenhang mit dem jetzigen Kriege steht, ist doch selbstverständlich. Nur das äußerliche Zusammentreffen ist wirklich ein verblüffender Witz der Literaturgeschichte, der wert ist, kolportiert zu werden.

— — — — — — — — — —

23. VI. 15.

L....

heut kam Dein Brief vom 20. Sei unbesorgt: ich lege gar keine besondere Wichtigkeit in diese Beförderungsfrage, auch finanziell nicht; mich langweilt nur mein ewiger Unteroff.-Gehalt, wenn ein so hoher Offiziersgehalt meiner Dienstzeit gewissermaßen zusteht; — — — — — — — — — — — — — — — — —

Ich setze mein Leben und mein Werk, an das ich glaube, nicht leichtfertig ein für eine Sache wie diesen Krieg, die mich nur äußerlich interessiert. Ich kann ja immer noch nicht über den Krieg schimpfen und ihn hassen wie Du, — als ob die Menschen vor dem Kriege und nach dem Kriege und je besser gewesen wären. Was ist denn der Krieg anders als der bisherige Friedenszustand in anderer, eigentlich ehrlicherer Form; statt Konkurrenz gibt es jetzt Krieg. Ob die Menschen auf Schlachtfeldern sterben oder durch Stubenluft und in Bergwerken, ist kein wesentlicher Unterschied; der Tod selbst und die Wunden verderben die Seele nicht. Den Tod als Zerstörung erkenne ich überhaupt nicht an. Der Tod Deines Vaters war mir doch noch furchtbarer und erschütternder als der Tod Wilhelms; ich weiß nicht, ob Du das verstehst. Faß es jedenfalls nicht auf, als ob ich jetzt abgestumpft wäre oder den Kriegstarantelstich hätte, wie Du schreibst; ich fühle hierin, wie ich immer gefühlt; vielleicht erinnerst Du Dich, wie ich schon immer früher über den Tod sprach: er ist absolut Erlösung. Dazu braucht man kein Pessimist sein, nicht einmal Buddhist, höchstens Christ. „Tod, wo ist Dein Stachel?“ — Es ist nicht einmal wahr, daß ich mich „an den Krieg gewöhne“, wie Du annimmst; aber ich taste immer ehrlicher an die Wurzel von dem allen, auch an die Wurzel der Friedenszeiten. Ich glaube nicht an die „menschenwürdigeren Zeiten“, von denen Du so viel sprichst: sie sind nur latent, übertüncht, — aber immer, im Frieden und im Kriege, gibt es noch ein anderes Leben, das kein Tod, kein Mord und kein Sterben, keine Wunden und keine Krankheiten bezwingt und das von Weltverböserung so wenig als von Weltverbesserung beeinflußt werden kann. „Mein Nerv wurde hart in mancher roten schöpferischen Stunde“, — vielleicht ist es das; denn ich bin sonst, als Mensch, nicht grausamer, hartherziger geworden; Du kennst mich ja. Aber wenn ich im Leben was thue, meinem Nächsten oder auch dem Nächstbesten christliche Liebe erweise, will ich es immer so thun, daß meine rechte Hand nicht weiß, was die Linke thut, — nicht aber als Programm, als Welttendenz und um was zu bessern. Ich dachte auch viel über Livingstone nach; er ist verehrungswürdig wie Franz von Assisi, Pascal und Christus; aber liegt sein Erbfehler nicht auch in seiner Organisation der Mission? was wurde heute daraus? denkst Du heute über Heidenmission auch schon anders? Ich nicht. Gibt es heute weniger Sklaven? Werden die Menschen heute nicht mehr verkauft? die Formen ändern sich, sonst nichts. Es gibt nur einen Segen und Erlösung: den Tod; die Zerstörung der Form, damit die Seele frei wird. Du mußt nicht denken, daß ich die Bibel „poetisch“ lese; ich lese sie als Wahrheit, wie ich Bach als Wahrheit höre und reine Kunst als Wahrheit sehe. Kannst Du mich verstehen? Ach könntest Du doch!

A propos: zum Leben zurück: — — — — — Ja, das Leben! und die Menschen! sie können einem sehr leid thun, aber man kann sie nicht bessern. Wir müssen auf ein anderes Leben warten. Für manche brennt das läuternde Fegefeuer schon hienieden — hoffentlich gehören wir zwei unter diese — manche und die meisten leider — spüren hienieden davon noch gar nichts. Wirst Du mich verstehen? Das frag ich mich jetzt so oft! Dich glaub ich schon zu verstehen; Du meinst ganz das Richtige, nur drückst Du es anders aus als ich; scheinbar einfacher, ohne Scheu vor den Enttäuschungen: ich liebe Dich darum nicht weniger; aber ich möchte sie Deinem guten Herzen ersparen und Dich gleich zum Wesentlichen wenden.

Vieles in meinen Aphorismen kommt mir jetzt wieder in den Sinn, als ob ich’s erst heute verstünde, was ich damals, meist sehr unklar, gestammelt.

— — — — —
— —
Frz.

Nach dem ersten Urlaub.

Straßburg, 17. VII. 15.

L., von der Fahrt einen lieben Gruß. Mir wurden die letzten Tage innerlich doch schwerer, als ich es gestehen mochte und die Herausfahrt auch; auf allen Stationen derselbe Blick aller Abschiedwinkenden Frauen, — die weite Spanne des Lebens immer in einen einzigen Blick gepreßt. Aber ich trage so viele freudige Erinnerung an die Liebe in der Heimat mit mir hinaus, daß mir die Tage doch ein Segen sind; sei nicht traurig, daß ich in vielem so schweigsam war, — ich konnte nicht anders. Ich konnte mich nicht hingeben und frei fühlen — auf Widerruf! Erst wenn ich ganz frei bin, wirst Du Deinen alten Franzl (und vielleicht einen besseren) wieder ganz haben.

Mit tiefem Kuß
Dein
Frz.

21. VII. 15.

L., ich muß jetzt immer an Ried denken, an dies liebe, unsagbar treue reine Häuschen; ich kann es gar nicht begreifen, daß man es einmal wieder so gut haben wird, an solchem Orte und mit Dir, ohne fremden Zwang und nur seiner eigenen Menschlichkeit leben zu dürfen. Ich empfand in den kurzen Urlaubstagen alles so tief und entscheidend, — tiefer, als ich dem Ausdruck geben konnte und auch mochte; denn diese Empfindung konnten Worte nur matter machen und nie ganz aussagen. München interessierte mich so wenig; es rührte mich etwas in seiner Trauer; aber im Grunde war dort alles wie in einem Roman, der mich nur halb angeht und der uns nur während der Lektüre ein bißchen bannt. (Bei Wolfskehl fühlte ich etwas Liebe, vor allem als ich an seinem Krankenbett saß.) Und ganz Liebe fühlte und fühle ich für Dich, mein gutes liebes Lieb. Ich weiß, ich war so schweigsam, — Du frugst mich so oft; ich konnte dir gar nicht richtig antworten und sagen; — später fiel mir’s auf die Seele, Du könntest am Ende traurig sein; leb nur fröhlich in Gedanken an mich und an unser kommendes Leben.

Das Leben hier berührt mich überhaupt nicht mehr; es ist, als wäre es schon nicht mehr wirklich oder gegenwärtig; ein rein formalistisches Dasein, dem man gehorcht. „Der gute Soldat wider Willen“ wäre kein schlechtes Thema für einen, der philosophisch genug wäre, die ganze Tragik und Merkwürdigkeit dieses gegenwärtigen Zustandes zu begreifen. Alle begreifen ihn immer nur in dem Sinne, daß der Deutsche sein Land und seine Arbeit verteidigt, seine Mission fühlt, aber den Frieden im Herzen trägt, — keiner faßt das Thema so, daß man den Fluch urältester Gewissensverfehlung heute über sich ergehen lassen muß und daß man in diesem Kriege persönlich und als Volk „sühnt“. — Wir sind wirklich alle schuld an diesem Krieg; — das ist auch der eigentliche Grund, warum es uns so auf die Nerven geht, wenn wir jemand sehen, der so thut, als ginge ihn der Krieg, auch als Ereignis, gar nichts an. Nicht weil er dem bedrängten Vaterland nicht zu Hilfe eilt, sondern weil er sich einer Sühne entzieht; das „verstockte Herz“ des Evangeliums. Ich lese hier Gogol: die toten Seelen I. Ich glaube, ich habe Band II auch zu Hause. Wenn er da ist, sende ihn mir gelegentlich. Wenn nicht, laß es; dann bestelle ich ihn mir mit einigen anderen Reclambändchen. Ich las Tolstois Macht der Finsternis; es ist wirklich erschütternd, aber nur aus der russischen Seele heraus ganz zu verstehen. Das Ganze mit deutschen Typen gespielt würde gänzlich unwahr wirken. Ich hab es bei Reinhardt gesehen; es ist aber zu lang her, um die Aufführung aus der Erinnerung nachzuprüfen. Damals gefiel sie mir; aber wahrscheinlich war sie zu raffiniert und nicht im Geiste Tolstois. Die Übersetzung ist ganz miserabel, meist direkt dumm. Nimm Dir als Winterlektüre jedenfalls die Brüder Karamasoff vor; ich möchte, daß Du sie einmal liest. Was macht der gute Kam.? Erzähl mir nur weiter von ihm, was er sagt und denkt und thut.

29. VII. 15.

L., dank für den Bölsche, der mich sehr interessiert. Tierbuch I (das „Pferd“ ist Tierbuch II) kannst Du mir einmal ganz gelegentlich besorgen (gebunden). Ebenso die Atlantis (ich weiß nicht, ob das der Titel ist). Aber Du erinnerst Dich jedenfalls des Buches; es waren Zeichnungen darin von der prähistorischen Geographie der Erde. Solche Lektüre lenkt mich jetzt sehr ab und ich hab das ziemlich nötig. Wir sind seit heute in einem neuen Quartier, näher dem alten Herbstquartier, landschaftlich ganz bezaubernd, Schilf- und Lenaustimmung, gänzlich unkriegerisch. Unsere Thätigkeit scheint sich ihr anzupassen, — Felderbau! Ich bin über die Veränderung ganz zufrieden, wenn ich auch mein gutes Bett vermisse; hier ist es äußerst primitiv.

Den Schlick werdet Ihr schon noch fangen. Es zieht ihn doch in Menschennähe. —

Hier spielt sich alles in der Luft ab: Wildenten, die Schwalben, die sich schon sammeln, Flieger, die beständig hier auf- und absteigen, — man guckt die ganze Zeit in die Höhe. Und abends unken alle Sumpfvögel.

Schreib mir von Euch und Ried.

30. VII. 15.

L.,

Was ist * * * für eine merkwürdige Seele; wie verschieden sind überhaupt die Menschen! Daran muß ich jetzt oft denken. Irgendwo, in irgend einem letzten tiefsten Punkte mögen sie wohl alle gleich sein, (— Du nennst diesen heimlichen Punkt: Gewissen); ich glaube, dieser Punkt existiert ganz genau und scharf nur vor und nach dem Leben; während des Lebens ist er irgendwie, ein ganz klein wenig, mehr oder weniger von der Stelle gerückt; solange das Leben kreist und das Blut pocht, findet dieser Punkt keine Ruhe; niemand kann ihn genau ins Auge fassen; und die es sagen, täuschen sich; an diesem Ungefähr gehen wir alle zugrunde! Ich bin nicht einmal unruhig bei diesem Bewußtsein, — denn es gibt mir eben das Bewußtsein, daß ich lebe, am Leben leide und arbeiten muß, unaufhörlich, gegen das Ungefähr, bis wir sterben.

— — — — —

Das Dörfchen, in dem wir sind, heißt Haumont; an den Etangs von La Chaussée gelegen; ein Stündchen von Hagéville; zwischen Hagéville und St. Bénoit. Wir haben momentan reinen Feldbau zu betreiben; wir sind ja auch um ein Stück weiter hinter der Front zurück; zwischen zwei Fliegerstationen. Den ganzen Tag surren die Flugzeuge um uns herum; es ist beständig was los in der Luft. Und wenn keine Apparate fliegen, wiegen sich Geier und Weihen und Falken über den Feldern und Sümpfen. Abends ist die Luft voll von dem bekannten Brunnenbacher Moorunken, dem Ruf der Weihen und Käuze. Die Gegend ist sehr waldreich, alles ganz verwildert; es scheint mir sogar, daß es einst künstliche Waldanlagen, Parks von St. Bénoit waren, die jetzt ganz verwachsen sind; ein bißchen wie der Park von Gendrin, in dem wir jagen gingen. Ohne Mückenschleier ist hier natürlich kaum zu schlafen; der meine ist famos, wenn Du genug Zeug hast, fertige noch zwei; ich möchte sie Kameraden schenken.

Über Politik mag ich gar nicht mehr reden. Der Krieg geht seinen Gang; keiner kann ihn heute ändern oder kürzen oder verlängern. Auch Amerika nicht. Mir scheint vielmehr, alles, was jetzt passiert, hat eine gute innere Logik; die Sozialisten erhalten eine furchtbare Handhabe gegen die „Regierenden“. Was heute alles geschieht, werden die Völker nie vergessen; der Boden für die großartigste Bewegung des vierten Standes wird heute bereitet; aber thätig begeistern mich auch diese Vorgänge nicht. Die Kunst zieht eine andere Straße ins ewige Leben. Scharf denken kann ich heute überhaupt nicht; alles erscheint dämmerig und etwas trunken. Ich ersehne nichts als die Heimkehr.

Dank für das gereinigte Besteckchen. Grüß alle herzlich — — — — —

— — — — —

29. VIII. 15.

L., heut vor einem Jahr bin ich ausgezogen, — weißt Du noch, wie ich in der Nacht alarmiert wurde? Dank für Deinen lieben Brief vom 26. (mit dem Gruß vom Golling drauf). Du wendest Dich in Deinen Gedanken und Vorwürfen viel zu sehr an die einzelnen Führer, Regierungen etc., statt die Schuld in der Gesamtheit, im Gesamtverhalten, resp. im Verhalten jedes Einzelnen zu suchen. Regierungen haben sich nicht über Völker gesetzt, sondern die Völker haben sich Regierungen geschaffen, die das Verhalten des Einzelnen autoritativ decken. Du hörst ja unser Volk! Darüber ist so viel zu sagen. Am Menschengedanken muß man mit der Arbeit einsetzen, nicht an der Politik. — Ich schreib Dir nächstens ausführlich. — Ein paar Tännchen wirst Du im Frühjahr eben doch einsetzen. Willst Du Dir nicht doch ein Kätzchen anschaffen, wegen der Mäuse? Welf wird ihm nichts thun. — Spielst Du? Mir geht es jetzt wirklich gut. Du kannst in dieser Zeit mit großer Ruhe an mich denken. Heute schrieb Deine Mutter eine Karte aus Gendrin mit der Ansicht des Gutes, — das hat mich auch tief wehmütig gestimmt. Wohin, wohin ist das alles? Wo sind die Jahre? — — — —

— — —
Frz.

4. Sept. 15.

L., ich kann von nichts erzählen als von Dingen und Gedanken, die Du auch erlebst, vom Herbst, vom Grün, das langsam den bräunlich faulenden Ton bekommt, und von Erinnerungen. Denn von dem, was vor uns liegt, kann man nicht reden; ich sehe trübe, — andre sind äußerst optimistisch; alles Reden ist aber zwecklos. Es geht uns äußerlich famos; geistig ist man sicher nicht normal, — keiner von uns; aber ich denke: die Anormalität des Empfindens ist kaum mehr als eine von den Weltumständen aufgenötigte Chamäleon-Fähigkeit; das Chamäleon wird sich dessen auch kaum bewußt sein, daß es seine Farbe zehnmal am Tage wechselt. Vielleicht hat das alles doch für später die glückliche Folge, daß man im späteren Eigenleben erst recht eigen und unbeeinflußbar wird und Regie, Betrieb und Unwahrheit als eigentliche Sünde wider den heiligen Geist empfinden wird. Darauf hoffe ich sehr bei mir selbst.

9. IX. 15.

L., heut nur einen schnellen Gruß, der Dir sagt, daß es mir gut geht. Die Herbsttage sind ganz wundervoll, einer schöner wie der andere. Letzthin zogen viele Reiher über uns nach dem Süden, ebenso Brachvögel. — Von Hertha kam wieder ein gutes Paketchen. Unser Kurs dauert immer noch an und beschäftigt uns vollauf. Mir ist seine Fortdauer schon wegen der Gesellschaft nur angenehm. Wie schön muß es jetzt bei Euch sein! Hier ist es schließlich auch schön, aber man fühlt alles nur halb und unrein.

12. IX. 15.

L., heut am Sonntag hat der Kurs ein ganz lustiges Ende gefunden mit einem großen Preisschießen (mit Karabiner und Pistole; ich erschoß mir den 4. Platz, als Preis ein Lederetui mit Fächern für Papiergeld, — wir sprachen ja einmal davon, — ich brauch also jetzt keins mehr!); daran anschließend ein kleines energisches Jagdreiten über Hürden und Hindernisse und Abschiedsbankett — das ist der Krieg!!! Ende September soll dann das Examen sein (vor fremden Herren); danach dann die für die Beförderung ausschlaggebende Qualifikation. Ich kann nicht sagen, daß mir das Lernen und Arbeiten an den artilleristischen Aufgaben so fad und unangenehm ist, wie es P. gewesen zu sein scheint; mich hat vieles interessiert; und Examinationen waren mir eher spaßhaft und anregend als peinlich. Sehr leid ist mir, daß die gute Gesellschaft wieder auseinandergeht; hier bleibt nur * * *, der mich gar nicht interessiert. Du sprichst von fehlenden „Verbindungen“; das ist natürlich sehr richtig, nach den beiden Möglichkeiten und Annehmlichkeiten hin: schnelle Beförderung oder: angenehmer Heimatposten. Was nicht ist, kann man nicht herzwingen. Ich bin froh, daß ich nicht von Generalstäblern abstamme oder als Edelknabe in der Pagerie erzogen worden bin wie * * * und Du wohl auch. Lieber verzichte ich auf alles und warte gemächlich, bis dieser unglaubliche Krieg herum ist.

Eben kommt Dein lieber Brief vom 10. Sept. Ich schrieb Dir schon einmal: ich kalkuliere und prophezeie überhaupt nichts mehr. Ob Zar oder Großfürst — wie soll unsereiner aus solchen Symptomen einen wohldurchdachten, begründeten Schluß ziehen über die wirkliche Lage! Es ist allerdings ärgerlich und blöd, daß man so stumpfe Sinne hat, es nicht zu können! Mein Ausdruck „Thema“, als ich vom Krieg als Folge des deutschen Dranges die kaufmännischen Weltgeschäfte an sich zu reißen schrieb, hat natürlich nichts mit unserem Kurs zu thun. Ob Deutschland fähig gewesen wäre, ein „geistiges Gegengewicht“ zu halten, erledigt sich natürlich so ziemlich durch die Thatsache, daß Deutschland dies eben nicht gethan hat, — das ist eben die Tragik des deutschen 19. Jahrhunderts. Wer aber kein Kaufmann und Industrieller werden will, wer das alles haßt, ist und wird heut eben Widersacher, — er darf nicht schweigen. Ich selbst bin jedenfalls ein so vollkommener Deutscher im alten Sinne, einer aus dem Lande der deutschen Träumer, Dichter und Denker, das Land von Kant und Bach und Schwind und Goethe und Hölderlin und Nietzsche, — nur mit dem einen Argwohn im Herzen: ob nicht die Slaven, speziell die Russen heute schon bald die geistige Führung der Welt übernehmen werden, während Deutschlands Geist sich in kaufmännischen, kriegerischen und protzigen Händeln unrettbar verschlechtert. Ich kann diesen Glauben an die Russen gar nicht näher begründen; aber irgendein Gefühl flüstert es mir immer zu. — — — — — Meine guten, kleinen Rehe! Daß ich diese wunderbare Herbststimmung nun wieder nicht erlebe, die fallenden Äpfel und alles, alles! Grüße Muttchen herzlich, auch K. — — — — —

18. IX. 15.

L., ich fühle etwas, auch unter guten Kameraden: man kann sich nicht mehr verständigen; fast jeder spricht eine andere Sprache. Es gibt nichts Trostloseres, Geistverwirrenderes, als über den Krieg zu sprechen; und über etwas anderes kann man schon gar nicht sprechen; das wirkt wie ein Irrenhausgespräch, rein fiktiv; keiner glaubt mehr voll an die Realität seiner Interessen und Weltbeziehungen; „denn es ist ja — Krieg!“ Und der Krieg selbst ist ein unlösbares Rätsel, das sich das menschliche Gehirn wohl selber ausgedacht hat, das es aber nicht aus-denken, zu Ende denken kann. Paul sandte mir ein Buch von Paul Rohrbach „Bismarck und wir“, — merkwürdig ungeistig; einfachste Realpolitik, die jedem zugänglich, der ein bißchen auf die Karte sieht: die Notwendigkeit des Suezkanals für Deutschland resp. Türkei usw.!! Reist man ein paar Kilometer über die Front, hat der Mensch — homo sapiens — englisch zu denken, nämlich: der Suezkanal muß unter allen Umständen englisch bleiben! Nirgends und von niemand wird der Krieg als menschliche Angelegenheit betrachtet, stets nur als englische oder türkische oder deutsche usw.; oder neutrale, wo das Pharisäertum seine schönsten Blüten treibt.

Kriegsgegner sind wohl alle; auch Deine Offiziere aus Gendrin mit ihren einstigen Hoffnungen und Erwartungen auf den kommenden Krieg. Aber sobald sich solche Kriegsgegner über dies Thema unterhalten und ihre Gedanken einigen wollen, geraten sie sofort in den schwersten und aussichtslosesten Streit; es ist, wie wenn der Teufel ihre Zungen leitete.

Eben trifft * * *’s Brief ein; das ist sehr anständig. Und Deine Wintersorgen bist Du hoffentlich wieder ein bissel los. Es ist doch ganz unglaublich, wie sehr das Geldpublikum sich von Kritikern beeinflussen läßt. Stahl spricht ja gerade von dem Hasenbild! Ja, Geist kann nur von Ungeist Gewinn ziehen und „leben“, nur wo der Ungeist, die Dummheit und die Interessen auf den Plan treten, ist Wirtschaft möglich. Traurig. Ich schäme mich. Nun für heute genug. — — — — —

— — — — —
Dein Frz.

Gruß an Maman.

Streichle Hanni und die Kleinen.

23. IX. 15.

L., beiliegend die Sturmnummer, die den Tod von August Stramm meldet. Ich zweifle nicht, daß, wenn wir Stramm persönlich gekannt hätten, uns sein Tod auch tief berührte. Die hier abgedruckten Gedichte machen mir wohl wieder den Eindruck einer sehr begrenzten Begabung; aber innerhalb dieser Grenzen des Unvermögens eine großartige Leidenschaftlichkeit des Empfindens; die Sprache war ihm nicht Form oder Gefäß, in dem Gedanken kredenzt werden wie z. B. für Rilke oder Stephan George, sondern Material, aus dem er Feuer schlug, oder: toter Marmor, den er zum Leben wecken wollte, wie ein wahrer Bildhauer. Er war schon am richtigen Wege. Aber diesen Weg wirklich zu gehen, bedarf es noch eines Größeren.

Als ich heute Stramm wieder las, erkannte ich ganz deutlich, wie sehr Rilke und George und Mombert einer vergangenen Gefühlswelt angehören, als letzte sehr reife übersüße Früchte. Mombert ist herber und naiver, weniger abgeschlossen. Ich könnte mir denken, daß Mombert noch einmal und Besseres schafft; und daß es um so urwüchsige und ehrliche Naturen wie Stramm sehr schade ist, wenn auch sein zeitiger Tod wohl Schicksal ist. — — — — —

Und nun für heute Schluß! Mir geht’s famos. Gruß an Deine Mutter, Niedmanns, K. und meine Tierlein.

— — — — —
Dein Frz.

24. IX. 15.

L., dank für die Insterburger Karte und den lieben Brief vom 20. Was Ihr von Rußlands gefährlichem Zustand denkt, wird wohl richtig sein; was Rußland heute leidet, ist entsetzlich. An die geheimen Friedensverhandlungen glaub ich nicht; aber ich glaub, ich schrieb Dir schon einmal: ich laß mich gern — überraschen. Von der Stimmung im Lande bin ich gut unterrichtet; es ist eben — „Belagerungszustand“, — Belagerung der Seele, des Gemütes, des Leibes, — alles. Verlier nur die Freude am Garten etc. nicht — das hat doch auch keinen Sinn. Gegen Mäuseplage im Garten streut man am besten Giftweizen. Ein Hund rührt ihn nicht an; in die Löcher streuen, damit die Vögelchen nicht dran kommen. Wenn Ihr Welf weggebt, schafft sofort ein Kätzchen an. Ich bin entschieden dafür, Welf wegzugeben.

30. IX. 15.

L.,

der arme, kleine Trim! Das ist schon traurig; aber das Tierchen hatte es doch die wenigen Monate seines kleinen Lebens gut und vergnügt gehabt, so daß es keine traurige Erinnerung ist; das arme Peterchen seinerzeit schmerzte mich darum tiefer, weil ich immer dachte, es hätte noch viel gestreichelt und getröstet werden müssen für sein Kinderleiden. Hoffentlich bringst du Schlick und Hanni durch; ich könnte auch nicht mehr machen als Du; ich weiß ja, wie hilflos wir damals in Planegg vor dem kleinen Rehchen standen, das uns starb. Ein gewisser Prozentsatz dieser Tierchen geht immer ein. Was Du thust, scheint mir alles ganz richtig. Außerdem muß man eben seine Erfahrungen sammeln, z. B. betreff der Würmer. Darüber weiß ich gar nichts. — Heut kam auch Dein Paketchen mit den Socken, Handschuhen und einem Paar ganz famoser Pulswärmer, die mir sehr gelegen kommen, da sie das Handgelenk doch viel wärmer halten als die kurzen. Geld sollst Du mir keins schicken, mein Lieb; solange ich hier im Kasino esse, bin ich ja wirklich sehr gut versorgt, und da ich ja fast nichts trinke, genügt mir meine Löhnung so ziemlich. Mir macht ein bißchen zu sparen gar keine Schwierigkeiten; jetzt, in diesem Kriege, kann man nicht schlemmen! Ich hab wenigstens keine Lust. Meine Beförderung scheint wohl sicher; ich habe mich mit noch zwei (* * * und * * *) schriftlich damit einverstanden erklären müssen; die beiden mußten sich als Reserveoffiziere außerdem zu drei achtwöchentlichen Übungen verpflichten, ich als Offizier der Landwehr zu einer auf die Dauer bis zu acht Wochen (— — — — —). Ob wir nun vorerst Offiziers-Stellvertreter werden, wissen wir selbst nicht. Prüfung wird wahrscheinlich gar keine stattfinden. Ich glaube nicht, daß man mich eigentlich zur Batterie holen will, wenigstens nicht für dauernd. Unsre Kolonne wird jetzt stark vergrößert (24 Jahrgänge) und muß noch einen Offizier bekommen und ich scheine dazu ausersehen, was mir sehr recht wäre. In Anbetracht des nahenden Winters ist mir diese Beförderungsgeschichte schon sehr angenehm.

Die Offensive macht mir gar keine Angst mehr; sie können unsre Stellungen da und dort in Trümmer schießen, sodaß man mal zurück muß, aber werfen können sie uns nicht; und die schrecklichen Verluste sind immer beiderseits. Wie mag es nur dem armen Helmut ergangen sein? Er stand nicht weit von der Haupteinbruchstelle.

Betreff Welf magst Du recht haben; später gebe ich ihn aber sicher weg. — — — Beiliegend wieder Kritiken; in der Frankfurter Zeitung erschien heut auch eine lange Rede über mich. Wenn das doch endlich aufhörte. Es ist mir so fad und alles kommt mir so dumm und falsch vor, die Bilder selbst auch; ich kann mir, auch die guten, kaum mehr vorstellen. Behalte diese ganzen Besprechungen. * * * braucht sie nicht, glaub ich; oder wirf alles weg. — Du sollst keine Kopfschmerzen haben! — Das Russisch-lernen macht mir Spaß. Du solltest diese Worte hören! Dieser Klangreichtum und diese Wortcharakteristik! Aber blödsinnig schwer; ich werde nicht recht weit kommen. Das ist mir auch gleich. Es ist wenigstens eine abstrakte Beschäftigung wie das Schach,

— — — — —
Dein Frz.

1. Okt. 15.

L.,

von nun an brauchst Du bei Deinen Sendungen an mich nicht mehr besonders auf Platznot Rücksicht zu nehmen; ich hab jetzt meinen geräumigen Koffer, den ich mir in diesen Tagen aus Metz besorgen lasse (Holzkoffer mit Eisenbeschlag), in den viel hineingeht. Ich schrieb Dir schon gestern, daß ich plötzlich mit der Beförderung zum Offiziersstellvertreter überrascht worden bin, der in einigen Wochen das Leutnantspatent folgen wird. Heut war die offizielle Offizierswahl; die ministerielle Bestätigung dauert kaum länger als vier Wochen. Das Angenehmste ist obendrein, daß ich bei der Kolonne bleibe; ich brauche weder eine Prüfung zu machen, noch Referenzen einzureichen. (Dies mag vielleicht darauf zurückzuführen sein, daß ich einmal erwähnte, daß Deine Angehörigen als Offiziere gefallen sind.) — Schick mir mal den Emanuel Quint, den ich jetzt gern lese. — Als Offiz.stellv. habe ich monatlich — — — — — viel mehr als ich brauche! Also die Geldsorgen kannst Du jetzt wirklich fahren lassen und nicht etwa mit Heizmaterial und was sonst fürs Häuschen nötig ist, knausern; auch nicht mit München fahren, soviel es Dich freut. Hilf auch * * *’s aus, wenn sie es nötig haben. Ich dachte mir schon, ob ich ihnen einmal, wenn ich das Leutnantsgeld habe, 100 Mark als Feldgeschenk schicken soll; was meinst Du? soviel könnt ich leicht einmal entbehren, nachdem Du selbst ja auch die Berliner Verkäufe hast. Als kinderlose Leute könnten wir das und sollten das wohl machen. Auf Urlaub im Spätherbst, spätestens Dezember kannst Du auch sicher rechnen. Weihnachten selbst glaub ich keinenfalls. Erstens werden da event. dieselben Alarmgerüchte, die sich voriges Jahr so traurig bewahrheitet haben, umgehen, andrerseits werden, wenn kein Alarm ist, dann wohl die älteren Offiziere das Urlaubsvorrecht beanspruchen und wir Jüngeren die Truppen führen müssen; momentan ist jeder Urlaub vollständig gesperrt wegen der Offensive im Westen; wie lang das dauert, kann kein Mensch wissen. Jedenfalls hab ich als Offizier ganz andere Urlaubsaussichten als früher. Nun hab ich noch eine Bitte: bestelle — — — — — Nun genug von diesem Militärzeug!

Heut kamen Deine zwei lieben Briefe, die von den armen Rehchen erzählen. Das gute liebe kleine Trimchen! Hoffentlich bringst Du die Hanni und Schlick durch. Wenn ich zurückkomme, sorge ich jedenfalls sehr energisch, daß die Tierchen vor Hunden Ruhe haben. Am besten denk ich mir, man pflanzt einmal auf der langen Seite dichtes kurzes Gebüsch und kleine Tännchen und zieht einen zweiten Innendrahtzaun. Ich glaube diese eine lange Seite würde genügen. Auf der Nordseite dann eventuell nur die Bretter bis auf ca. 1 Mt. erhöhen; es sieht freilich nicht hübsch aus und ist am Ende nicht billiger als Draht und auch Gebüsch, das gegen Sicht deckt. Gegen das Erschießen und gar Prozeß!! bin ich auch. Man macht sich die Leute zu direkten Feinden und zieht schließlich nur den kürzeren. Es wird ein bissel was kosten, aber schließlich ist alles Angepflanzte immer Gewinn. Wir müssen unser Leben in Ried so einrichten, daß wir möglichst wenig Reibung mit den Bauern haben. Wir können unser Rehgärtchen sehr gut so ausgestalten, daß sie uns auch die Tierchen nicht stören können.

Im Westen bekommen wir glaub und hoff ich langsam wieder die Oberhand. Man fühlt sich eigentlich allgemein erleichtert, daß die Offensive endlich ausgebrochen ist, — die Hoffnung, daß sie die Kriegsentscheidung bringt, ist doch wieder sehr lebendig geworden. Die Größe des Bluteinsatzes ist beiderseits fürchterlich; aber niemand sieht einen anderen Ausweg; der Einzelne natürlich, aber nicht als Volksganzes; da kann es keiner verantworten zu sagen: hören wir von heut auf morgen auf und lassen wir die Franzosen und Russen in unser Land. Nötig dazu wäre eine Verständigung von Volk zu Volk, — aber wie eine solche heute anbahnen? Man darf über das alles nicht leichtsinnig und dilettantisch urteilen. Ich halte die Dinge streng auseinander; dem rollenden Völkerschicksal kann nur ein Dilettant in die Räder greifen wollen; der Reine sieht schweigend und trauernd zu und geht zur Quelle des Übels zurück, einsam und einzeln ganz weit zurück.

Bleib gesund und denk auch wieder fröhlich an mich und unsere Zukunft. — — — — —

Dein
Frz.

2. X. 15.

Liebe, die Legenden von Lagerlöf kenne ich nicht; nur Gösta Berling; sie ist schon sehr fein, aber sie hat mich doch nie ganz gefesselt, ich weiß nicht, woran es lag. Der schöne Vers von Rilke ist ein echter Rilke; liest man viel von ihm, klingt wohl eine Manier durch, die seinen zum Teil prachtvollen Gedanken etwas Gewicht nimmt. Ist Novalis interessant? — Wie sehne ich mich oft nach eigener Arbeit! Diese lange, lange Strecke unproduktiven Lebens. Es gibt erschreckende Dinge zu sagen, keine sanften pastoralen Klänge. — Grüße alle! Mit liebem Kuß

Dein
Frz.

5. X. 15.

L.,

wenn sich die Rehchen strecken, ist es ein sicheres Gesundheitszeichen; das gilt auch für Hunde und Katzen. Würmer sind im Kot nachweisbar; wenn Du keine findest, haben sie auch keine. Doktor Kahle werde ich einen Gruß schreiben. Ich kenne die Besprechung in der Frankfurter Zeitung. — Lisbeth sandte mir wieder ein Paketchen, ich lege ihren kleinen Brief bei. Daß K. bei Stramm auch das Lebendige, Schöpferische herausfühlt, freut mich. Die Versuchung, Stramm darum zu überschätzen, liegt ja nicht nah. Vieles, was Stramm gemacht, hält einen gründlich davon ab. Aber es geht hier wie bei den Futuristen und manchen Kubisten: ein paar schöpferische lebendige Klänge sind mir wertvoller als die reifsten Passée-Vollkommenheiten eines George oder Rilke, oder Kokoschka, — selbst wenn mir letztere vorübergehend genußreicher und lesbarer sind. Ich würde mich nur freuen, wenn Du es unternähmst * * * direkt oder indirekt zu antworten; auch wenn es beim Versuch bliebe. Der Zwang etwas zu formulieren ist immer heilsam. Die Sprache ist doch ein wundervolles Material, mit dem zu arbeiten an sich schon Genuß und Gewinn ist.

Fortsetzung. 6. X. 15.

Ich habe in diesen Tagen das einliegende Buch von Th. Mann gelesen; lies es auch; ich mag Manns Stil gar nicht, vieles ist auch richtige dumme Journalistik; aber liest man weiter, gerät man immer wieder auf Geist und Sinn. Die Darstellung des fridericianischen Problems ist sehr interessant. Vieles des heutigen Krieges wird klar, wenn man das weiß, was Mann hier ausplaudert. Ich glaube, man muß alt werden, um einigermaßen zu erfassen, was für eine sonderbare Art von Tier der Mensch ist, „la bête humaine“, wie Zola so gut sagte. Schick mir das Buch zurück, es gehört * * *.

Jetzt spielt die Entente ihren gefährlichsten Trumpf aus, — am Balkan!! Da drunten hat nun wirklich der Teufel die Karten gemischt! Wie klug waren unsere Vorfahren, sich die Teufelsfigur auszudenken, um sich die Welt zu erklären. Wir haben Himmel und Hölle entvölkert, bilderstürmerisch, — aber auf Erden, in unserm Blut, leben dieselben Kräfte fort, für die wir jene klassischen Symbole schufen! Die Kunst wird immer wieder in eine neue Welt von Symbolen münden; man wird mit dem Leben und dem Rätsel: Mensch so leicht nicht fertig.

Schlaf lieb und gut; ich schlafe momentan ausgezeichnet. — — — — —

Dein
Frz.

9. X. 15.

L.,

ist einliegende Karte mit der alten Frau, die in das Kaminfeuer bläst, mit ihrem Hund, nicht erschütternd? ein Schicksalsbild des armen Frankreich. Unser Leben ist umgeben von solchen Bildern. Ich kenne für mein Gemüt nichts Fürchterlicheres als den seltsamen Blick dieser alten, über alle Vorstellung vereinsamten Greise und Großmütter Frankreichs. Die Kirche von Senzey ist auch von einer namenlosen Traurigkeit. Helmuts Karte lege ich auch bei; vielleicht hat er doch das Glück und kommt durch; ich wußte ja, daß dieses Gemetzel im Westen kommen würde. Es hilft kein Reden und Klagen und Anklagen. Es ist ziemlich sinnlos, den paar Regierungsmännern die Verantwortung für dies Inferno zuschieben zu wollen. Jeder einzelne ist genau so schuldig. Was versteht der einzelne unter „Frieden“?? Das begierige Wiederaufnehmen desselben friedenswidrigen sündlichen Lebens und Strebens, das diesen Weltbrand erzeugt. Die Axt muß an die Wurzel gelegt werden. Ich finde, Du redest Dich in Deiner Trauer und in Deinem Zorn in einen ganz falschen Demokratismus hinein.

Ich verstehe wohl, daß Du Dich zuweilen nach Berlin oder Bonn sehnst, — ich zweifle nur, ob Du Dich jetzt dort wohl fühlen könntest, gar in Berlin!!! Das würde für Dein Gemüt katastrophal enden; Bonn — vielleicht; erholen würdest Du Dich auch dort kaum. — — — — —

Mit den Rehchen scheint es ja gottlob besser zu gehen; bestelle mal wieder die Photographie von unserem Häuschen und schicke sie mir. Ich werde hier so oft drum gefragt, wie es aussieht — etc.

Nun Schluß.

Mit vieler, vieler Sehnsucht

Dein tr.
Frz.

13. X. 15.

L.,

wie schön ist das kurze Gedicht von Lasker-Schüler auf Senna Hoys Tod; sie ist doch eine große Künstlerin, deren Stärke immer wieder über ihre großen Schwächen triumphiert. — Symptomatisch interessant ist der jetzt (im selben Blatt) lanzierte Artikel über die D. G. G. In diesen Tagen vollzieht sich, meine ich, der entscheidende Umschwung, — das Ende des Krieges wird mit Riesenschritten nahen, das seh ich jetzt voraus. Ich bin auf einmal wieder etwas Optimist. Der Einmarsch in Serbien ist vom deutschen Heere in so beispielloser Stärke seit Monaten vorbereitet, genau wie seinerzeit die furchtbare galizische Offensive. — — — — —. Ich halte es nun doch für wahrscheinlich, daß wir Frühjahr 1916 das Ende erleben werden, — wenn nicht sogar etwas früher. Die Ratlosigkeit der Entente am strategischen Schachbrett ist zu offenkundig. — Bei uns hat es ja fast den Anschein, als wollten wir das lange oder dicke Ende dieses Krieges schön gemütlich in Haumont abwarten! Ich reite jetzt viel für mich allein spazieren, stundenlang in den riesigen Eichen- und Buchenwäldern, die sich zwischen Haumont und Hattonchâtel und St. Mihiel ausdehnen, spazieren. Die Herbstfarben sind jetzt so glühend wie einst am Thränenhügel! Ich habe mir ein hübsches neues Pferd herausgesucht, eine hochrote Fuchsstute „Eva“. Ich kann jetzt gottlob ohne zu fragen und wohin ich will, meine Ritte machen; den ewigen Druck des stündlichen Angebundenseins bin ich jetzt doch etwas los, — angebunden bleibt man natürlich immer! Also wenn Du Dir mein Leben vorstellen willst, stell Dir Deinen Franzl auf seiner Eva langsam durch die Herbstwälder reitend vor. Ich reite viel Schritt; es wimmelt von Raubzeug hier; Rehe sind sehr selten; (heute traf ich zum erstenmal eine Hanni mit 2 Kitzen!) Außerdem sind seit gestern 3 Kraniche hier! Hauptsache grau, weiße Unterseiten; sieh doch mal im Brehm nach, was es für Kraniche sein könnten, ob Jungfernkranich oder eine andre Art. Reiher sind es nicht; Reiher und Störche tragen im Flug den Hals anders.

Heut abend kam Dein Paket vom 4. X., also in 9 Tagen; das geht sehr prompt; dank für die guten Fläschchen! Strümpfe habe ich jetzt mehr als genug, schick auf keinen Fall mehr. Mit warmen Sachen bin ich jetzt überhaupt vollkommen versorgt. Wegen weicher weißer Hemden, also mit anderen Worten: etwas Offizierswäsche schrieb ich Dir schon; wenn Du nichts mehr findest, kaufe nichts, — ich besorge es mir ganz einfach in Metz. Morgen — übermorgen bin ich auch dort, nehme ein Bad und dergl.

— — — — —
Dein
Frz.

16. X. 15.

L., heute schickte mir Kahle wieder eine Arbeit über das ägyptische Schattenspiel, das „Krokodilspiel“, — sehr anregend; ich bin eigentlich sonst zum Lesen ganz unfähig, höchstens so ganz ausgefallene, unvorhergesehene Sachen freuen mich. Alles andere scheint mir so fatal bekannt, voll europäischer Tendenz und unnötig, „ohne Not“. Ich müßte jetzt bald arbeiten können, — das Lesen hat jetzt keinen Sinn für mich. Über das Kriegsende bin ich immer noch guten Mutes; mir scheint ein Waffenstillstand wirklich sehr im Bereich der winterlichen Möglichkeiten. Über meine Abkommandierung hab ich noch nichts weiter gehört; hoffentlich verschiebt sie sich noch eine oder zwei Wochen, schon um des wunderbaren Herbstes willen, — das Reiten ist jetzt zu schön! — die Offensive stumpft sich ja auch ganz ab; ich glaube, wir bekommen hier nicht mehr viel zu thun. Meine einzige Sorge ist Helmut.

— — —
Frz.

19. od. 20. X. 15.

L., Du frägst, ob ich zwischen 5. und 9. nicht geschrieben habe? So lange Pausen hab ich nie gemacht; vielleicht hab ich aber zuweilen ein falsches Datum erwischt, wie heute zum Beispiel. Ich glaube, Du kannst Dich noch immer nicht in meine Seelenverfassung hineindenken; was gehen mich Datum und Tage an! Gibt es etwas Gräulicheres als diese „Zeit-einteilung“; ich empfinde sehr zeitlos und fühle mich dabei weit wohler als am Anfang, als ich die Tage und Wochen zählte! — — — — —

Wie freu ich mich, daß es den Rehchen wieder gut geht! Hat eigentlich Niestlé nie meinen Brief mit schwedischen Kritiken bekommen, um deren Entzifferung ich ihn bat? Ist am Ende seine Post kontrolliert und hat man den Brief mit den schwedischen Einlagen konfisziert? Es liegt mir gar nichts an ihnen, nur der Fall an sich wäre interessant.

Über mein Antwerpener Kommando hab ich gar nichts weiter gehört; vielleicht wird auch nichts daraus, nachdem es so lange dauert. Es thät mir leid. Aber ich rühre wie bisher immer keinen Finger deswegen; ich lass alles an mich herankommen, wie’s kommt. Willensbestimmung hat man ja doch keine und ich nehme letzten Endes doch auch nicht das geringste Interesse am Kriegführen und Soldatsein; ich begreife immer gar nicht, daß man mich so schätzt; die Herren sind unglaublich schlechte Psychologen, — vielleicht auch gute: denn sie wissen, daß man sich auf mich militärisch und menschlich verlassen kann, und meine Privatmeinung geht sie nichts an. Schicke jedenfalls unbesorgt, was Du ev. schicken willst; wer weiß, wann das Kommando einmal kommt! Und nachgesandt wird mir gegebenenfalls doch alles!

Träumst Du zuweilen von mir? Ich schon von Dir!

— — — — —
Dein
Frz.

20. X. 15.

L.,

heute bekam ich die Mitteilung, daß sich mein Antwerpener Kommando um ca. 1-2 Monate verschiebt, ich also zunächst noch hierbleibe; Dir wird es ja vermutlich ein erfreulicher Aufschub sein, da Du wohl über alle Veränderungen Dich sorgst; mir aber thut es leid; ich hatte mich auf die Abwechslung sehr gefreut; der Aufschub hat aber auch seine guten Seiten: erstens komme ich dann sicher als Offizier hin und mit weit größeren Annehmlichkeiten wie als Offiziers-Stellvertreter, dann werde ich außerdem vermutlich von hier aus Urlaubsaussichten haben, gesetzt, daß die Urlaubssperre bald aufgehoben wird, was wir alle hoffen. Den Franzosen sind die Offensivgedanken, glaube ich, ziemlich vergangen; es ist bei uns ruhiger denn je. Unsre Kolonne ist jetzt auf ihre etatsmäßige Stärke angewachsen, 24 Fahrzeuge und über 200 Pferde! In Ensisheim, zur Zeit unserer schärfsten Gefechtstätigkeit hatten wir ganze 9 Wagen und versorgten eine ganze Abteilung (3 Batterien, zuweilen sogar noch mehr!), — heute sind wir nach Felddienstvorschrift auf Etatsstärke gebracht und thun nichts. Es scheint mir auch, nach dem was ich hörte, sehr unwahrscheinlich, daß wir verstärkt wurden, um uns irgendwo einzusetzen, wie wir eine Zeitlang vermuteten. Es wird einen langweiligen Winter in Haumont geben; ich verlange mir ja absolut keine Gefechttätigkeit, — aber Abwechslung, Berührung mit neuen Menschen und andrer Umgebung. Die Zeit des Aspirantenkurses war mir darum eine riesige Wohlthat.

Du wirst in den Zeitungen jetzt auch des öfteren die englischen Stimmen lesen, die von Friedensverhandlungen wie von einem ganz absurden deutschen Hirngespinst reden, — laß Dich davon nicht täuschen. Dies Zeitungsgerede ist ganz irrelevant, — mein Optimismus ist ganz unerschüttert. Was sagst Du zu dem „opfernden Großgrundbesitzer“ im beiliegenden Zeitungsabschnitt, — ist der nicht köstlich? Geradezu unglaublich ist der nebenstehende hysterische Blödsinn der Morning Post.

Kuß und Liebe von
Deinem
Frz.

Koehler hat sich sehr über Deinen Obstgruß gefreut.

p. s. Heut Abd. kamen noch 3 liebe Paketchen von Dir: Ingwer, Gelee und Kragen. Vielen Dank. Gelee werd ich morgen zum Frühstück versuchen, (hab ich Dir schon geschildert, daß unser Kasino eine Blockhütte ist, rund um und das Dach mit Schilf bekleidet, und drin sitzt Dein Franzl als Frühaufsteher meist allein vor seiner Frühstückstasse und ißt morgen Rieder Gelee dazu? das Ganze wär ein ideales Atelier für mich!) Kragen probier ich auch morgen. Deine Nachricht, daß in Berlin die Militärlieferungen nachlassen, ergänzt ja sehr meinen jetzigen Optimismus. Es freut mich sehr, daß Du ein bißchen Kleiderluxus treibst. Die innere Trauer hat doch nichts mit schäbiger Kleidung zu thun; das fehlt auch noch, daß sie darin ihren äußerlichen Ausdruck findet! Um Gottes willen!

23. X. 15.

L.,

hast Du den letzten „Sturm“ (13/14) gelesen? Mich hat darin einiges betroffen, z. B. die sehr unverstandene Nachahmung meiner Holzschnittgedanken durch * * *. — Dann der Briefwechsel zwischen * * * und * * *, der sein Verhältnis zu mir erwähnt; das ist ein so seltsames Gefühl; man traut’s sich immer nicht zu und vergißt ganz, daß Bilder „wirken“, rücksichtslos und auf ihre Weise, wie es einem mit Kindern gehen mag, die ihr Leben leben, und die Dinge sagen, die der Vater gar nicht gemeint hat, — und doch stammen sie von ihm. In dem Verhältnis von mir zu meinem Vater ist dies zweifellos wahr. — Und drittens regte mich das Stück von Aug. Stramm außerordentlich an. Wie immer gerate ich beim Lesen natürlich auf musikalische und malerische (in dem Fall rein kubistische) Vorstellungen; ich bin gänzlich außerstande, sein Werk literarisch, sagen wir: dichterisch zu werten, aber es geht in Formenvorstellungen und musikalisch-thematisch ganz rein in mich ein. Du wirst mir gewiß sofort entgegnen, daß ich hier wieder die Form suche und nach der Form urteile, statt nach dem Inhalt und dem Gefühl zu suchen, das durch das Werk ausgedrückt ist. Ich kann diese Dinge nicht trennen. Denn ich meine: wäre kein reines und starkes Gefühl in dem Werk, könnte seine Form mich doch auch nicht erregen, — denn erregt wird doch zweifellos mein Lebensgefühl. Die Art, wie Stramm seinem Gefühl Ausdruck gibt, ist so rücksichtslos, so bewußt und von einer so schöpferischen Lust eingegeben und bestimmt, die sich so wenig um die Trägheit des Lesers kümmert, wie der Komponist einer Chaconne oder wir Maler heute. Unser Gefühl von der Welt findet keinen anderen Ausdruck. Über das Gefühl läßt sich nicht streiten; ob es nun vielen oder allen oder wenigen zugänglich ist, darum können wir uns nicht sorgen; das müssen wir dem „Weltgeist“ überlassen. —

Ich lese eben in der Zeitung, daß Euer Fleischmenü von Staats wegen wieder beschnitten und eingeschränkt wird; — — — — — ich bin froh, daß Du momentan bei Geld bist und ich Dir auch schicken kann, so kannst Du Dir manches extra leisten. Du würdest Dich wahrscheinlich baß verwundern, wenn Du unsern täglichen Frühstückstisch sähest: prachtvolles Weißbrot, Salzstangen und Schnecken mit Weinbeeren drin und Zuckerguß wie beim „beehrens uns ferner“! Wir leiden keinen Mangel; mein Magen hat sich aber auch erstaunlich erholt. — — — — —

Dein Frz.

28. X. 15.

L.,

Du schreibst mir ein Klagekärtchen, daß ich mich gegen das tägliche Schreiben sträube. Ich habe in letzter Zeit aber recht fleißig geschrieben und meist auch recht gern; für die Unregelmäßigkeiten der Post kann ich natürlich nichts. Es ist für mich oft schwer zu schreiben, jeder äußere Anlaß hier fehlt, denn ich bring es nicht über mich, von „hier“ zu erzählen; von Ried kann man erzählen, aber der Krieg heraußen macht stumm, — wenigstens mich. Sei froh, daß ich so bin. Paul ist nun in nicht ganz harmlose Situationen gekommen, — hoffentlich hat er Glück wie ich im Elsaß, für sich und seine Leute; denn das war mir immer ein schrecklicher Gedanke, daß Leute, die meiner Führung anvertraut sind, verwundet würden oder fallen könnten. Denn man kann so viel an Fährnissen durch geschickte Führung der Munitionswagen vermeiden. An Pauls plötzlichem Kommando siehst Du, wie unberechenbar alles im Felde ist; das ist natürlich kein Trost für Dich; — das weiß ich schon, — aber eigentlich sollte es doch einer sein, denn das Schicksal ist Herr über unseren Leib, nicht der Krieg.

— — — — —. Schon Dich recht; vertrau doch auf das gute Glück, mein Lieb, und laß diese Sorgen und Ängste; daß Du traurig bist, verstehe ich schon, ich bin’s auch. Aber Angst ist nicht würdig. Gefahr gibt es nicht, sondern nur Bestimmung.

Einen Mordsspaß macht es mir, daß sowohl Du als Maman seelenruhig „Offiz.-Stellvertr.“ schreibt, während Ihr mir selber die Leutnantsernennung aus der Zeitung mitteilt!!! Das Patent hat ja mit der Ernennung nichts zu thun. Es stand doch in der Zeitung am Anfang: zufolge „Allerhöchster Entschließung“, — auf was wartet Ihr eigentlich noch?? Ich bin Leutnant der Landwehr, nicht Leutnant der Reserve, aber jedenfalls Leutnant wohlbestallt und wohlgestaltet. Ich fühl mich jedenfalls wohler als Unteroffizier oder als Vizewachtmeister.

Daß nicht einmal so ein anständiges Quartett wie Wendling oder Rosée oder meinetwegen die Münchener die Front abreisen und uns einmal heraußen einen Beethoven und Mozart vorspielen. Hier im Stellungskrieg wäre das so anstandslos zu machen. Wie sehne ich mich so oft danach, — überhaupt!! Ich glaube, wir heraußen haben doch noch ein bißchen mehr Anlaß zum „trübsinnig werden“ als Ihr daheim und auch Du in Ried, — und wenn meine Briefe matt und trüb sind, — an meinem Herzen liegt es nicht, auch nicht an meiner Liebe, das glaub nie. — —

— — — — —
Dein
Frz.

29. 10. 15. Metz.

L., einen Stadtgruß von hier. Es ist ein höchst merkwürdiges Gefühl für mich, das Stadtleben zu sehen. Diese Bedingtheit aller Gesten, diese Trauer!! Ich verstehe gar nicht, daß das, wie es scheint, so wenige merken, auch von meinen Kameraden. Ich fühle die Legende dieses Krieges, der jetzt schon Mythos und Geschichte ist, furchtbar stark, oft ganz erschütternd. Ich empfinde ihn doch noch ganz anders als Du; wir werden noch viel darüber reden! —

Ich hab mir rohseidene Wäsche gekauft, prima Stiefel, zweite Reithose usw. In Kleiderfragen wird mich der Krieg wahrscheinlich sehr nach Deinem Geschmack verändert haben!

2. XI. 15.

L., ich bin so froh, daß meine Post nun doch richtig angekommen ist. Vielleicht läßt Du Dir es doch für ein nächstes Mal ein bissel zur Lehre dienen. Warum die Postsperre stattfand, wissen wir selbst nicht. Daß mein Antwerpener Kommando auch erst später trifft, hat mit den Kriegsaussichten etc. gar nichts zu tun. Diese Schießkommandos sind ja gewissermaßen Friedensübungen, die jetzt auch während des Krieges abgehalten werden und zu denen eben nach einem gewissen Schema alle tüchtigen Reserveoffiziere kommandiert werden; ein solches Kommando aus der Front ist natürlich eine Auszeichnung. Könnte ich Dir doch etwas von meinem Gleichmut, — nenne es meinetwegen in der alten (d. h. Deiner neuen) Sprache: Gottvertrauen geben; ob ich nun bei der Kolonne bin oder als Batterieoffizier verwendet werde, ist ja ganz gleich. Es kann mir gar nichts geschehen, was mir nicht notwendig geschehen muß. Es gibt keinen dummen Tod oder ein dummes Unglück oder Glück; ich las wieder viel im Evangelium, — wie kannst Du eigentlich im Evangelium lesen und doch Angst haben? Thatsächlich: mir ist das gänzlich unverständlich. Lies Deinen Nerven aus dem Evangelium vor, da müssen sie doch ruhig werden und Dein ganzes Wesen muß freudig werden.

Von meinen Urlaubsgedanken hast Du ja inzwischen gehört, ich hoffe sehr, daß es gelingt. Ich habe um 14 Tage eingegeben. Es wäre zu schön! Also wenn ich telegraphiere, erschrick nicht. — — — — —

3. XI. 15.

L., Ührchen und Manschettenknöpfe sind richtig und gesund angekommen. Ich habe eine wahre Freude dran, wieder so anständige Dinge in der Hand zu halten und zu tragen; deshalb laß ich mir auch den silbernen Reitstock machen, — ich hab es zu lange entbehrt, mich anständig tragen zu können. Mein Urlaub scheint mir ziemlich sicher; das Regiment hat ihn befürwortet, was, wenn nicht irgendwelche Befehle höheren Ortes kommen, wie z. B. Sperre, für die Divisionsentscheidung maßgebend ist. Ich fahre dann wohl entweder morgen abend ab Metz oder übermorgen, — ich glaube nicht, daß es länger dauert. Treffpunkt natürlich bei Maman, wenn ich Dir keinen genauen Zug telegraphiere. Zum Schreiben fehlt mir jetzt natürlich jede Stimmung, nachdem ich hoffen darf, Dir in ein paar Tagen meine Liebe mündlich zu sagen!

Es ist nicht verwunderlich, daß Ihr mein „sehen der Musik und Literatur“ nicht ganz verstehen könnt; es ist vollkommen die einseitige Eigentümlichkeit meiner malerischen Begabung, musikalisch und literarisch natürlich ein Manko; ich halte es für ausgeschlossen (jedenfalls für einen unglücklichen Fall), wenn jemand für alle Kunstarten ein gleich reines Artverständnis hätte. Ich habe literarisch lange daran gelitten, weil ich so oft meinte, Dichtung eben als Dichter und literarisch werten und genießen zu können. Dabei blieb ich immer Dilettant (wie Goethe großen Angedenkens in der Malerei!). Erst jetzt beginne ich mich vor Literatur ebenso frei zu machen, als ich es seit langem vor Musik bin. Ich sehe alles, alles ist in meiner Auffassung bildnerisch figuriert. Auch ethische Gedanken wie die Bibel z. B. setzen sich bei mir nicht als Sozialismus oder Pantheismus ab, sondern gehen in rein bildnerische, malerische Gedanken auf. Ich werde daher z. B. Tolstoi nie ganz folgen können.

Nun, diesmal nicht addio, sondern auf baldiges Wiedersehen.

Nach dem letzten Urlaub.

19. XI. 15.

L....

— — — — —

Es ist ein sonderbares Gefühl, plötzlich wieder in dies wie erstarrt stehen gebliebene Stellungskriegsleben zurückzukehren; daheim war ich in Bewegung, — an jedem Tage hat man in irgendeiner Richtung Schritte gethan, Gedanken gesandt und gefördert und aufgenommen, — hier steht alles wie im verzauberten Märchen still. Immer wieder dieselben stereotypen Flieger über dem Land, dasselbe langweilige Schießen, das man schon nicht mehr hört; das Leben ist erstarrt. Ich machte einen schönen Spazierritt, — das ist das Einzige was mich freut. Der innere Dienst ist genau so mechanisch erstarrt wie die ganze gegenwärtige Kriegsform im Westen.

In Liebe und neuer Sehnsucht.

20. XI. 15.

L., ich lese mit immer wachsendem Interesse und Verblüffung Emanuel Quint, — Du hast recht: wir hatten einen anderen Gerhart Hauptmann in unserer Vorstellung als er in der That ist. Ich hatte so sehr Wortkunst wie in der Versunkenen Glocke und „Literatur“ erwartet, aber niemals diese beispiellose Sachlichkeit und diese Seelenkennerschaft, die so wesensfremd aller Theaterkennerschaft ist, die man ihm bisher zutraute, — ich wenigstens in voller Verkennung dieses Geistes. Ich stecke natürlich noch in den Anfangskapiteln dieses Buches und doch glaube ich es schon ganz zu kennen, weil es so ganz unliterarisch, d. h. ohne Laune und ohne Willkür, sondern gänzlich episch, logisch notwendig und ohne Wanken geschrieben ist. Eine unglaubliche Lektüre für einen Offizier im Feld! Die Doppelteilung meines Wesens wird durch sie natürlich grotesk gesteigert, aber das schadet nichts; es thut wohl. Ich hatte heut mit einem katholischen Feldgeistlichen eine lange Sache zu bereden, — ich mußte immer ein heimliches Lachen unterdrücken, — alles was wir sprachen, war so unendlich komisch und unmöglich für mich. Wie kann man nur so leben! in welche Masken und Verstellungen hat sich der menschliche Sinn verstiegen!

Ich erlebe jedenfalls in dem Buche das Seltene, daß es mich wirklich interessiert und ich jede Zeile lesen kann; alles andere, was ich in letzter Zeit in die Hände bekam (z. B. auch Nietzsche, Novalis, Tolstoi, Strindberg usw.), fesselte mich nur zeilenweise, — eben nur da, wo sie genial sind, — das andere ist alles langweilig. — — — — —

Grüß K. und streichle meine Rehchen und den alten Russi. Wie mag’s Hanni gehn?

21. XI. 15.

L., ich schrieb Dir schon gestern, mit welcher Freude ich Emanuel Quint lese. Die Idee des Buches deckt sich vollkommen mit meiner Auffassung des Christentums, — nämlich ihrer prinzipiellen Gegensätzlichkeit gegen pazifistische Organisationen (wie in den Neuen Wegen), sozialistischen Kommunismus, der ein Erlahmen der Seele und des christlichen Opfer- und Überwindergedankens bedeutet. Bestimmend ist immer der Eine Gedanke: die Welt, das „leibliche Wallen“ berührt uns nicht, da wir nicht auf das Sichtbare sehen, sondern auf das Unsichtbare. Die Nächstenliebe ist wie die menschliche Nahrung eine symbolische Handlung. Der Mangel jeglichen sozialistischen Empfindens ist gerade das Prächtige, Sieghafte an Quint: er lebt nur seiner eigenen Erniedrigung vor der Welt und damit seiner Befreiung; er will den Menschen gar nicht körperlich helfen und sie leiblich satt und gesund machen; seine auf das Geistige, Unsichtbare gerichtete Seele schrickt schmerzlich vor dieser Bitte zurück, die er in den Augen der Menschen, zu seiner bitteren Enttäuschung immer wieder liest. Das ist das große Mißverständnis der Welt an Christo. Als Quint von den Gendarmen fortgeführt wird, spricht er das furchtbare, schneidende Wort: „nach mir aber fraget niemanden fortan“!

In nächster Woche soll hier wieder ein Aspirantenkurs stattfinden, — ich freu mich um der Abwechslung willen darauf; ich vermute, daß ich als ausbildender Offizier dazu kommandiert werde, was mich nur amüsieren würde; das Leben hier ist trotz mannigfacher Arbeit zu öde so. Ich gebe jetzt jeden Nachmittag meinem Chef theoretischen Artillerie-Unterricht; er möchte ja zur Balkan-Armee, besitzt aber nur ziemlich mangelhafte Artillerie-Kenntnisse. Was ist das alles für ein verrücktes Theater- und Traumleben!

Betreff Zentralheizung: Zeichne mir doch einmal einen ganz groben Plan des Hauses, ungefähre Zimmergröße und Höhe (also Kubikinhalt). Ich habe hier Gelegenheit, mir einen Voranschlag machen zu lassen, was so eine Installation ungefähr kostet; ich möchte diese unverbindliche Gelegenheit benutzen, um für später eine Handhabe zu besitzen, und spätere Voranschläge zu beurteilen.

Leb wohl und gehe etwas vergnügt in unserm Häuschen umher, — der Krieg dauert nun keine Ewigkeit mehr. — — —

Frz.

24. XI. 15.

L., ich lese und lese immer noch im Emanuel Quint; es wird einem so warm und frei bei diesem reinen Werk zumute. Es erklärt mir ja auch so viel von Deinem neuen Denken, für das ich mir keinen rechten Schlüssel wußte, weil es immer so stark durchsetzt war von Nebenschlüssen und Folgerungen, die aus einer andern Quelle stammten und die mir die reine Linie Deiner Gedanken verwischten und verzerrten. Aber in diesem Buch liegt die reine Linie, die ich selbst immer suche; wenn ich Dir einen Rat geben sollte, wäre er: lege den höchst mißverständlichen, weil immer sophistischen Tolstoi zur Seite; ich will gar nicht anzweifeln, daß Tolstoi dasselbe im Herzen will wie Hauptmann, aber er ist sprachlich d. h. in seiner Logik eitel; ich fühle das absolut sicher, so oft ich ihn lese; er ist tendenziös und darum trotz seines ehrlichen Ringens unrein. Und ebenso d. h. in viel größerem Maß unrein sind die „Neuen Wege“. Die liegen voller Schlacken und führen von der reinen Linie unweigerlich ab. Ich verstehe jetzt natürlich auch K.’s Wesen viel besser, da ich sein greifbares, geistiges Vorbild kenne. Auch er wird sich zu hüten haben, daß er nicht in Dilettantismus und in irgendeine Art von Eitelkeit gerät.

Eines bleibt mir gänzlich unbegreiflich: die geringe geistige Aufnahmefähigkeit unsrer Zeit. Ein Egidi, ein Häckel u. a. werden tausendfach verschlungen und ein solches Buch bleibt ungelesen, — wenigstens nach meinem Wissen und scheinbar ohne Wirkung auf den Geist unsrer Zeit. Ob Kandinsky es gekannt hat?? Ich halte es für möglich; denn wir kannten Kandinsky selbst sehr wenig. Kennt es Kubin, Klee und Wolfskehl? Schenke es vor allem Niestlés; Du kannst es ihnen von mir aus zu Weihnachten schenken. Ich möchte unbedingt einmal Hauptmann kennen lernen; vielleicht machen wir einmal eine Reise nach Schlesien. Die Erklärung, warum das Buch so wenig Einfluß gewinnen konnte, kann nur in der Unreife der Menschen liegen; sie mißverstehen das ganze Buch sicher gründlich, nehmen es literarisch und können es bis zur geistigen Reinheit nicht durchdenken. Hauptmann macht ihnen, vielleicht aus einer inneren Güte und einem Mitleids- und Schamgefühl heraus leicht, ihn mißzuverstehen. Grade darin liegt ein unglaublich feiner geistiger Takt in ihm, der ihn in dem Buch nie verläßt. Lieber thun, als wären es Kieselsteine und keine Perlen, die man vor die Säue wirft; nur die Sehenden dürfen merken, daß es keine Kieselsteine sind. Das macht mir diesen Geist so vertrauenswürdig.

Nun noch einen lieben Kuß; ich muß schnell schließen, damit der Brief noch wegkommt.

Dein
Frz.

Samstag 27. XI. 15.

L., einliegend zwei Bilder, noch aus meiner Offiz.-Stellvertreterzeit in Ch. aufgenommen mit den Herren der II. Abt. und meinem jetzigen Chef Oberleutnant * * * (der 5. von links, mit seinem Dantegesicht). Der rückwärts an der Hauswand neben mir steht, ist Leutnant * * * der Schwager des Dürnhauser Barons.

Gestern fiel Schnee, heut ist es ganz klar und kalt, richtiger strenger, trockener Winter. Man hört den ganzen Tag keinen Schuß. An den Krieg läßt sich schwer noch glauben; der Balkanfeldzug hat etwas so unwahrscheinlich Glückhaftes, die Fehler der Gegner, aus denen wir unser ganzes Glück ziehen, etwas noch Unwahrscheinlicheres, — es liegt für mich viel Shakespearisches in diesem langen Drama, nicht zum wenigsten durch Griechenlands zweideutige Haltung, die die Spannung theaterhaft erhält und durch das Eingreifen des „jungen Bulgariens“ als Deus ex machina. Ich hätte nie gedacht, daß die europäische Welt noch derartiger romantischer Dramen fähig wäre. Wenn ich heut an den Krieg denke, gerate ich ganz in Shakespearische Vorstellungswelt und Dichtung. Ich sag das nicht leichtsinnig, — es gibt im Gegenteil sehr zu denken, nach der Seite der Dichtung und der Kunst hin als nach der Seite des Lebens und des Menschengeistes.

Ich bin jetzt bis zum Ende des Quintbuches gekommen; es ist geistig sternenklar; wenn ich an das Leben Quints denke, beglückt und bedrängt mich eine ähnliche Empfindung als beim Anblick des reinen Sternenhimmels, der mir in diesen Kriegsjahren ein solcher Freund geworden ist. Durch Quints Leben geht jene abstrakt reine Linie des Denkens, nach der ich immer gesucht habe und die ich auch immer im Geist durch die Dinge hindurch gezogen habe; es gelang mir freilich fast nie, sie mit dem Leben zu verknoten, — wenigstens nie mit dem Menschenleben, (— darum kann ich keine Menschen malen). Quint hat wohl seine reine Idee manchmal mit dem Leben verknotet; daß er dabei doch rein geblieben ist, darin liegt seine göttliche Größe.

In tiefer Liebe

Dein
Fz.

1. Dez. 15.

L., heut kam große Post von Dir, Briefe vom 19., 24. und 27. (aus München). Nun scheint ja auch meine endlich an Dich zu kommen. Päckchen mit Siegellack ist noch nicht da. Dein guter Brief vom 19. hat mich so sehr gefreut; Du schreibst, daß Dir meine Ideen und das kurze Zusammensein mich Dir noch näher gebracht haben und Du diese Stimmung noch halten möchtest. Mir ist es ähnlich gegangen; und die Lektüre von Emanuel Quint befestigte in mir diese neue Sicherheit der Seele. Du schreibst in einem Brief, ich soll Dir noch mehr über mein Lesen im Quintbuch schreiben; ich weiß gar nicht, ob ich das momentan kann. Da gibt es nicht viel zu reden; alles ist rein in diesem Buche; es kennt kein à peu près, kein Ungefähr und keine Konzession; ich fühle nicht den Urtrieb des praktischen Märtyrertums in mir; aber meine Seele ist zu aufrichtig und klar, um Dilettantismus mit dem Christentum und meinem Gewissen zu treiben. Für mich gibt es nur die eine Erlösung und Erneuerung: wenigstens jedes Ungefähr, jede Konzession nach gleichviel welcher Seite aus meinem Werk zu bannen; den Begriff Quints von der Reinheit, Weltunberührtheit, hat auch keiner seiner Jünger, nicht mal ein Dominik begriffen, sonst hätte er sich nicht getötet; denn damit erleichtert er sich die Verantwortlichkeit seiner Idee und nimmt sich gewissermaßen den Lohn ohne eigene Arbeit im voraus weg; — es wäre dasselbe, als wenn ich an dem Tage, an dem ich voll den Begriff der Reinheit in mich aufgenommen hätte, den Entschluß faßte, nunmehr kein Bild mehr zu malen (= „nicht mehr zu leben“). Man darf nicht aus Furcht, doch wieder in Unvollkommenheiten zu fallen, die Hände in den Schoß legen; ich verstehe heute zum erstenmal, warum eigentlich auf den Selbstmord dieses Odiosum gelegt wurde; es ist zweifellos der Gedanke, daß man der Verantwortung nicht selbständig — selbstsüchtig vorgreifen darf. Ich schicke Dir das Buch nächstens mit ein paar Büchsen zurück.

Über die Möglichkeit einer Rückberufung oder längeren Urlaub zum Arbeiten hab ich noch nachgedacht; ich bin überzeugt, daß ein solcher nur denkbar wäre, wenn ich irgendeinen offiziellen Kunstauftrag bekäme, zu dessen Ausführung ich Urlaub bekäme; ein solcher ist aber doch ausgeschlossen, vor allem ohne Kompromiß, den ich doch nicht eingehe. Warne nur * * *, daß er sich keine Blamage mit mir einbrockt und einen offiziösen Auftrag deichselt, den ich dann hinterher ablehnen muß. Geduld ist alles; nicht wir allein haben das Friedensbedürfnis.

Ich freu mich so, daß die gute Hanni wieder gesund ist; — — — — —

1. Dez. 1915.

Liebe Maman, dank vielmals für Deinen guten Brief 117 — — — — —.

Wenn * * * die Musik von Schönberg im Blauen Reiter meint, so kannst Du ihr sagen, daß sich meine Beurteilung der Schönbergschen Musik auch gewandelt hat. Sie klingt wohl ganz anregend und interessant, bleibt aber doch im Sentimentalen stecken. Mehr würde es mich interessieren, wenn sie Kulbin (einen russischen Musiker) kennen sollte, — von dem müßte sie mir einiges erzählen. Ich kann gar nicht ruhig von diesen Dingen reden, eine solche Sehnsucht habe ich nach meiner Arbeit, die mir immer mehr unter den Fingern brennt; wann wird doch dieses geistige Leben wieder kommen, in dem man früh und spät keinen anderen Gedanken hat als nach den reinen Ideen, die dem Weltbau zugrunde liegen, zu suchen und sie darzustellen. Die Urlaubstage, die mir wieder die engere Fühlung mit dem Lebendigen, mit Frauen und Freunden und Kunst brachten, haben diese Sehnsucht schrecklich vermehrt; heraußen fühl ich mich als Larve; der Krieg hat sich längst selber überdauert und ist sinnlos geworden; auch die Opfer, die er fordert, sind sinnlos geworden. Etwas Gewissenloseres und Traurigeres als das nutzlose Blut, das am Isonzo vergeudet wird, läßt sich in menschlichen Gehirnen nicht mehr ausdenken.

Gestern kam ein Päckchen mit Honigkuchen von unserer Babette, — sie denkt doch immer treu an die großen Buben in Pasing. Jetzt kommt wohl bald Advent, — diesmal können wir Dir keine Zweigelchen übers Bett stecken, das wir in friedlichen Jahren so — oft vergessen haben! So denkt man jetzt oft zurück, was man früher alles hätte tun können!

2. XII. 15.

L., — — — — — —

Was Du von Norenscher Musik sagst, ist ja sicher richtig und auch richtig definiert. Ob es kubistische echte Musik heute gibt, weiß ich ja auch nicht. Gehört hab ich noch keine. Im Geiste d. h. latent gibt es sie sicher; sowie es in der Malerei im Geiste noch verborgen echte reine neue Bilder gibt. Vielleicht sind schon welche da, — wir sind nur noch nicht zur klaren Entscheidung reif, welche es sind und wo die besten Ansätze stecken; ich halte das für sehr gut möglich; denn wir übersehen heute in dem großen geistigen Gewühle, in dem Europa steckt, durchaus noch nicht die wahren Linien und Formen. Vielleicht sind die Ansätze in der Malerei prominenter als in der Musik, — aber auch da werden sie sein; man muß nur sehr scharf horchen, — nicht in Konzerten, sondern nach innen horchen, sowie man die neue Malerei nicht in Ausstellungen suchen darf, sondern auf der Straße, im Leben und in der Nacht. Ich sehe sogar deutlich die neue Musik, den ganzen neuen Kontrapunkt: im Sternenhimmel. Auch wir können heute unser Geschick und die Wahrheit in den Sternen lesen, — es kommt nur darauf an, wie man sie ansieht. Ich sag das nicht aus Spielerei oder irgendwelcher mystischen Meinung, sondern ganz schlicht, aus meiner Empfindung und Erfahrung heraus. Natürlich kann man dasselbe im Tageslicht, in der Tagesnatur sehen, oder auf menschlichen Gesichtern lesen oder im Wind hören, — es scheint mir nur im Sternenhimmel alles viel klarer, unzerstörter, unverwischter, abstrakter und klarer gesagt. Wenn man einmal drin sehen gelernt hat (für Musiker z. B. das Tempo, in dem die Figuren auftreten, gebunden sind und gegeneinander singen) hat man hier eine unerschöpfliche Anregung. Ich gehe oft mit Sternbildern im Kopf umher; trotz der wahrlich saudummen Wirklichkeit und dem schlechten Menschengeruch, der mich hier umgibt. Die Menschen hier haben wirklich nichts andres im Kopf als persönliche Eitelkeit, auf ganz Wertloses gerichtetes Strebertum; ich spiele eine unmögliche Figur hier, — das „Unmögliche“ liegt vor allem darin, daß die anderen dies gar nicht so empfinden; man respektiert mich sehr, auch als Offizier, aber alle denken, ich müßte doch auch irgendwie ein bißchen wie sie empfinden; sie wundern sich dann immer, daß ich mich über dies und jenes „nicht ärgere“. Sie können nicht sehen, daß ich überhaupt gar nicht da bin, — noch weniger dringt ihr Blick je zu der Linie, wo ich wirklich stehe. Ich muß mich im Gegenteil in vielen kleinen Momenten freiwillig auf ihre Bank setzen, um zu vermeiden, daß sie meinen seelischen Abstand fühlen und sich dadurch gekränkt fühlen; denn das geht gegen meine Natur. Mein ganzes Bestreben geht nur dahin, daß sie nicht merken, wie dumm dieses Verhältnis zwischen uns ist. So ist doch manchmal das Verschweigen und die bewußte Täuschung des Nächsten die einzig anständige Lebensform, und nicht das: „die Wahrheit sagen“, jene fürchterliche, seelenkränkende Manie mancher Wahrheitsfanatiker.

Was ich jetzt im Sternenhimmel sehe, ist wohl was ähnliches wie das, was Du in Blumenbeeten siehst; wenn Du Sternenhimmel und Blumenbeete vergleichst, wirst Du wohl verstehen, was ich mit meiner Sternenliebe meine.

Was macht wohl das arme Schlickchen? Ich erhielt gestern Deine Karte. Warum Briefsperre ist, weiß ich auch nicht. In unserer Gegend ereignet sich wohl sicher nichts. Zuweilen wird heftig geschossen, aber es bleibt bei Artillerie- und Minenkämpfen, — die Infanterie wird nicht eingesetzt. Und die Artillerieduelle sind meist demonstrativ, Bedrohungs- und Warnungsschießen ohne ernstere und weiterreichende taktische Absichten.

Baron * * * hat leider und ganz gegen seinen eigenen Willen eine Batterie in einer anderen Abteilung bekommen, was mir sehr leid ist. Ich hatte mich recht auf seine Gesellschaft gefreut.

Ich bin heilfroh, zur Ausbildung der Aspiranten nicht kommandiert worden zu sein; bei diesem elenden Wetter, — Haumont schwimmt schier weg — wäre es nichts für mich. Eine Erkältung oder Rheumatismus hat man doch gleich, wenn man auf nassen Wiesen stehen und im Wind viel kommandieren muß. Für den Ausbildenden ist es gefährlicher als für die Aspiranten selbst, die nicht zu kommandieren brauchen und in ordentlicher Bewegung bleiben. Gegen das bißchen Theaterspielen am Exerzierplatz hätte ich nichts; es wirkt auf mich völlig abstrakt, sowie ich auch in unserm Kurs meinen innerlichen Spaß hatte.

Nun adio, sei nicht zu traurig, sticke schön und freu Dich auf die Zeiten, die für uns noch blühen werden.

— — — — — —

Ja, was Du schreibst vom Christentum; die Frage lautet momentan fast so: von dem, wie ich Eman. Quint lese. Vielleicht gibt Dir mein vorgestriger Brief schon in manchem Antwort; ich schrieb Dir darin, was ich als mein Gewissen fühle: meine Arbeit; nicht mein Leben als solches; ich kann gar nicht anders meine Unvollkommenheiten und die Unvollkommenheiten des Lebens überwinden, als indem ich den Sinn meines Daseins ins Geistige hinüberspiele, ins Geistige, vom sterblichen Leib Unabhängige, d. h. Abstrakte hinüberrette. Es ist nicht eigentlich das spätere Leben, das ich unter Geistigem verstehe; darin mißverstehst Du mich. Ich bin allerdings dem Läuterungsgedanken nicht fremd, — er erscheint mir sehr natürlich (nach dem bekannten: wenn ich geboren werden konnte, dann muß ich doch auch vorher einmal gestorben sein, — denk an die Blumen! Es ist von einer rührenden beseligenden Einfachheit). Aber unter geistigem Leben verstehe ich: das Wesentliche vom Unwesentlichen trennen. Der Starke subsummiert unter das Unwesentliche mehr als der Schwächere. Ich werfe jeden Tag mehr auf den Scheiterhaufen des Unwesentlichen, — das Schöne bei diesem Thun ist das, daß das Wesentliche dabei nicht kleiner, enger wird, sondern gerade mächtiger und großartiger. Lies sehr aufmerksam im Quint, — da steht alles außerordentlich fein und tief gesagt. Du mußt dir nur immer klar bleiben, daß unsre Sprache und unsre Logik am wenigsten berufen sind, in dem Lebensgeheimnis das „letzte Wort zu reden“; — Du scheinst mir immer zu sehr noch nach der Wortformel zu suchen, nach einer wörtlichen Definition des göttlichen Inhalts, — die gibt es nicht; so wenig man Kunst mit Worten erklären kann. Man kann schon reden, aber man muß sich stets der Grenzen bewußt bleiben, über die hinaus das Wort nichts mehr besagt und in seinen dummen Grammatiksinn zurückfällt. Wenn ich einmal wieder zu Hause bin und wir unser Leben zusammen leben, wirst Du sehr schnell genau verstehen, wie ich das alles meine, — es gibt da gar kein Mißverstehen. Die ganz unmöglichen Verhältnisse, in die der Krieg meine Persönlichkeit geschoben hat, haben mein Wesen und meine Gedanken gerade durch ihren Gegensatz außerordentlich geklärt und gewissermaßen zur Entscheidung gezwungen. Leb wohl, grüße K. und streichle den armen alten weißen Rußl und die kleinen Rehchen. Mehr kann man diesen nicht thun als sie zum Heufressen nötigen und Hasel- und Eichenzweige bringen.

5. XII. 15.

L., ich lese jetzt mit wirklichem Genuß die kleinen Bücher von Bölsche über die geologische Gestaltung der Erde; ich denke da immer an unsern kleinen Spaziergang ins Tal des Leinbach und sehe dort die grotesken Gesteinfalten. Dort gehen wir sicher einmal auf Muschelsuche, wenn die Leute einmal eingesehen haben werden, daß bei dieser ganzen Schießerei doch nichts Erhebliches und Erhebendes herauskommt. — Das Verrückteste an der ganzen blödsinnigen Westfront ist sicher St. Mihiel. Die Stadt liegt rund und knapp 1½ klm. vom 1. französischen Schützengraben weg! Artilleriebeschießung haben wir den Franzosen untersagt, d. h. ein einziger Schuß, der in die Stadt fällt, löst sofort eine mörderische Kanonade unsrerseits auf Commercy u. a. Orte aus, daß die Franzosen es auch vorziehen, uns das Vergnügen an Mihiel mit seinem Kaffeehaus usw. zu lassen. Spaß muß sein. Die Stadt wird nur bei Nacht zu gewissen Stunden durch Infanteriefeuer (einer sog. Gewehrbatterie), beunruhigt, vor allem die Hauptstraße, in der das beliebte Kaffee mit Damenbedienung ist. Man muß also ein bißchen vorsichtig sein beim nach Hause gehen. So um die ganzen und halben Stunden ist so ein bissel unsicher. Ich erkundigte mich letzthin nach dem Zahnarzt und frug, ob er eigentlich ruhig arbeiten könne. „O ja“, hieß es, „der wohnt ja in der rue soundso nach ‚hinten‘ naus.“ Hinten ist nämlich bei uns so viel wie Osten, und vorn ist Westen. Kubins Stadt „Perle“ bleibt ja weit hinter dieser grotesken Wirklichkeit zurück; aber in St. M. ist sonst vollkommen dieselbe ein bißchen dumme, ein bißchen gefährliche aber dafür auch gegen Alles gleichgültige Stimmung wie in „Perle“; selbst dieses traumhafte „nicht Fort-Können“ für die dort in Unterkunft befindlichen besteht wie in Kubins Buch. Wenn Du einmal Kubin sehen solltest, kannst Du es ihm schildern; er ist überlebt, d. h. das Leben ist über seine Phantasie gestiegen.

Kopfkissenbezüge kamen heute. Die halten schon eine Zeitlang. Wirklich gute Wäsche thut mir ja leid, da die Frauen hier zu schlecht waschen. Das Wasser ist trüb; dann schlagen sie die Wäsche, als müßte sie in Fetzen gehen. —

Beiliegend Brief von * * *. — — — Vielleicht freut sie mich wieder mehr, wenn ich sie sehe; meinen Brief hat sie natürlich nicht verstanden oder verstehen wollen; das thut mir um * * * leid, den ich eigentlich sehr gern habe; ich seh merkwürdig stark mich in seinem Gesicht. Ich war auch so altklug, menschenkennerhaft und „langweilte“ mich überall. Meine Zeichnungen waren auch unkünstlerisch, wenn sie auch steifer waren, — ich machte im Gegensatz zu * * * höchstens eine kleine Zeichnung pro Monat! Aber es ist etwas in * * *’s Gesicht, was mich und meine Knabenerinnerungen und Heimlichkeiten sehr berührt und das ich an ihm liebe. Ich hatte meinen Vater und was war mir dieser merkwürdige, philosophische Mensch! Und * * * hat gar keinen Vater!!

6. XII. 15.

L., also das arme liebe Schlickchen hat auch seinen kleinen Rehtraum ausgeträumt. Es ist doch eigentlich wirklich so; wenn ich an so ein kurzes kleines Leben eines solchen Tierchens denke, werde ich das Gefühl nicht los, daß es doch nur ein Traum war, diesmal ein Rehtraum, ein andermal ein Menschentraum; aber das, was träumt, das Wesen, das ist immanent, unzerstörbar. Ich hab in diesen Tagen auch einen so merkwürdigen, aufregenden Pferdetod erlebt. Das schönste, feurigste und dabei frömmste Pferd der Kolonne, ein wundervoller, starknackiger Schimmel, ein richtiges Pegasuspferd der Sage, ist plötzlich an einer Blinddarmentzündung (es waren Würmer im Blinddarm!) gestorben. Es kam ganz unerwartet; es war kaum 3 Tage richtig krank; die letzten 2 Stunden hatte es große Schmerzen, stöhnte und seufzte wie ein Mensch. Ich hatte dabei das Gefühl, daß es aufseufzt wie ein Mensch, den man aus einem lebhaften Traum aufrüttelt. Kurze Minuten drauf lag ein plumper, häßlich verfallender Pferdeleib vor mir, — der Pegasus war fort, — man hatte nur die irdischen stinkenden Reste vor sich, die man eingraben ließ, — da fiel mir das ewig denkwürdige, durch Jahrtausende hallende Wort ein: „Laß die Toten ihre Toten begraben!“

7. u. 8. XII. 15.

L., ich bin neugierig, wohin es uns diesmal zum Weihnachtsfest verschlägt. Maman schreibt heute, sie hofft, daß ihr Weihnachtspaketchen diesmal „rechtzeitig“ ankommt. Ich glaub’s kaum, nachdem wir wieder „auf Reisen“ gehen. Ich kann Dir gar nichts zu Weihnachten senden außer Briefgrüße und Liebessehnsucht. Wenn Du was weißt, kaufst Du Dir es schon in meinem Namen. Und ich werd auch manchen Punsch auf Dein und unser Wohl trinken. Seit Baron * * * wieder die Kolonne führt, bin ich sehr viel vergnügter. Wir zwei verstehen uns ganz gut; wenigstens werden wir verstehen, uns gegenseitig bei Laune zu erhalten.

Wenn Du je in Leseüberdruß kommst (d. h. wenn man keinen Shakespeare, Hoffmann, Dostojewski oder Hölderlin lesen will), — so lies Fabre, Bölsche u. dergl. Ich kann mir gar nichts Anregenderes und Befriedigenderes als Zeitvertreib und Bildung denken, als das Forschen dieser Naturwissenschaftler: Entstehung und Ahnenfolge der Pflanzen- und Tierwelt, die geologischen Zeitalter (letzteres ganz besonders), Insektenleben, Sternenlehre usw. Kennt eigentlich K. viel in diesen Dingen? Mich interessieren diese Dinge jedenfalls hundertmal mehr als Nationalökonomie, moderne Erfindungen usw. Ich lese diese Dinge, geologische Gesetzmäßigkeiten, mathematische Gesetze stets mit einem Begleitklang des Unterbewußtseins und Ahnungen und Folgerungen, die zwischen den Zeilen stehen; der Begriff: Naturgesetz ist bei mir längst aus dem Kurs; es gibt höchstens „Gesetz-mäßigkeiten“; die Periodizität alles Geschehens ist ja schon nicht mehr Gesetz, sondern Wandel, Schwingungsmaß in ungeheuren Zeiträumen. Die exakte Wissenschaft ist auch nur eine hohe, sehr scharfe europäische Denkungsart und auch nur „Anschauung“. Man kann sein Vorstellungsleben gar nicht weit und immens genug spannen, die Distanzen nicht weit genug nehmen, wenn man der tobsüchtigen, ich-süchtigen Enge dieses Jammerlebens entrückt sein will und Teil haben will am — Reich Gottes, am heiligen Geist. Der Niederschlag dieser Stimmung wird sich natürlich immer wieder im Leben zeigen, muß es ja. — — — —

Gemütlich-Leiningen,
16. XII. 15.

L., heute kam Dein langer Brief vom 13., in dem Du so viel über die uralte Frage des Wahrheit-sagens, Verschweigens und Theaterspielens schreibst. Du mußt letzteren Ausdruck nur ja nicht zu ominös fassen. Wenn dieses Spiel nicht von Liebe getrieben ist, ist es natürlich unfein, herzenshart und unehrlich. Mir scheint der Kern des ganzen Problems darin zu liegen, daß eine Wahrheit, die nicht verstanden wird, eben auch keine ist (für den Nicht-verstehenden) und damit ihren Sinn gänzlich verfehlt. Die Menschen stehen auf einem ungleichen Niveau. Die Menschen, die auf meinem Niveau stehen wie z. B. auch * * *, — denen brauche ich die Wahrheit ja gar nicht zu sagen; denn da deckt sich Wort und Gefühl ohne weiteres. (Aber in rein künstlerischen Dingen stehen wir auf ungleichem Niveau, — darum können wir zusammen gar nicht über Kunst reden; entweder schweigen wir oder spielen auch gelegentlich ein bissel Theater.) Steht jedoch einer unter oder über mir, so muß ich ihm die Wahrheit schon ausdrücklich sagen, gewissermaßen zurufen, daß er sie versteht, aber das Wort auf sein Niveau gebracht, bedeutet schon längst was anderes. Meine wirkliche Sprache ist für * * * chinesisch, — also rede ich (weil ich in diesem Falle der Überlegene bin) in ihrer Sprache; die bedeutet für mich natürlich Unsinn, — aber für * * * hat sie Sinn. Ich schrieb Dir glaub ich schon kürzlich einmal: man darf sich nicht zuviel auf Worte verlassen; es gibt nichts Wandelbareres als Worte. Auf jeder menschlichen Stufe, in jeder Luft bedeuten sie immer wieder etwas anderes. Nur Dichtern kann es gelingen, Gültiges zu sagen mit Worten, aber das kann nur im mysteriösen Bereich der Kunst geschehen und da heißt es: „wer es fassen kann, der fasse es“. Aber unterhalb der reinen Kunstregion wird ein grenzenloser Unfug mit der Sprache getrieben; sie ist so recht der Münze gleich, mit immer wechselndem Kurs oder staatlich erzwungenem Kurs; hie und da gibt’s Bankrott, ganze Staatsbankrotte von Worten. Mit Worten wird spekuliert wie mit Wertpapieren. Wie kann man ein so gemeines Werkzeug benützen wollen, um die — Wahrheit zu sagen! Daß Dichter sich des Wortes bedienen, besagt hier gar nichts. Was machen Musiker aus dem Klang, der an sich ja auch ein Fälscher-Bestandteil der Sprache ist. Das sag ich in allem Ernst. Denk einmal darüber nach. Der gewöhnliche Mensch bedient sich der Sprache zu ganz ungehörigen, wirrnisverbreitenden Dingen, die er dann als „Ideen“ in Kurs setzt. Man sollte viel weniger reden, sondern nur mit dem Gefühl leben. Dichter und Propheten können ihre Stimme erheben und „reden“, — die haben ihre Sprache für sich, die prägen Gedanken; aber das sind eben Künstler, d. h. außerpersönliche Erscheinungen; die wissen nichts von sich sondern nur von Gott, um mit der Sprache Quints zu reden. Ich will Dich durch mein Mißtrauen gegen das Wort nicht unsicher machen. Wenn man es ohne „Tendenz“ gebraucht, ist es auch ganz harmlos und ungefährlich; aber es scheint mir für unsereins ein ungeeignetes Material um Wahrheit um uns zu verbreiten.

Ich schick Dir einliegend einen netten Brief von Koehler, dann das unglaubliche Testament Menzels!! Dann eine Notiz über Mozart, — wie war es eigentlich möglich, daß Mozart im Massengrab verscharrt wurde? Ich weiß wenig von Mozarts Leben, — vielleicht leiht mir K. einmal eine Biographie von ihm, — ich denke, er besitzt eine. Kaufen sollst Du mir keine, — ich lese so etwas einmal und bruchstückweise und dann niemals wieder, wenn es kein Kunstwerk ist wie das Gauguinbuch. Jetzt fällt mir ein: schick mir doch französisch Stendhal: vie de Mozart, Haydn und ich glaube Händel. Die sind, glaub ich, in der grünen Lévy-Ausgabe (80 Pfg.) zu haben. Das würd ich jetzt gern lesen.

Mit Schlickchen wirst Du wohl recht haben, — er wird die Kälte nicht ausgehalten haben, das gute Tierchen. Melde jedenfalls dem Forstbuchhalter, daß Du nach einem Böckchen suchst, — so Leute wissen immer Gelegenheiten, ev. auch dem Forstmeister. Die 30-40 M. kannst Du ruhig aufwenden, wenn sich Gelegenheit bietet, — wenn ich zurückkomme, würde ich sie doch auch ausgeben; Hanni thut mir so leid, so allein. Gerade in einem strengen Winter werden oft Tiere gefangen; sag’s auch Bauer und dem Bruder Heinritzi, — ich glaube er ist Jäger; und setz ordentlich dicht Sträucher an der Längsseite, mit 2. Draht davor. Du könntest Dir auch ein junges Schäfchen oder Zicklein halten, — da hätte die Hanni auch Gesellschaft. Bei ersterem natürlich genau auf das Mutterschaf sehen, ob es ein schönes Tier ist. Hier gibt es z. B. wunderbare, verhältnismäßig schlank, mit schöner glatter Wolle und schwarzen Köpfen. (Ev. auf einen Markttag gehen.)

Betreffs Elly Ney magst Du vielleicht in Deinem Gefühl des zu sinnlichen Spiels auch recht haben. In stärkster Erinnerung ist mir der Walzer am Schluß geblieben, — das war aber nicht eigentlich sinnlich, sondern seelig-glücklich gespielt, — so wirkte er und auch manche Stellen im Brahms auf mich, während ich * * * aus der Kreutzersonate in Erinnerung habe und nicht ganz angenehm, im Vergleich zu Pugno, von dem ich sie zuerst hörte (mit Ysaye). Aber das sind alles so vereinzelte Erinnerungen, von persönlicher Stimmung beeinflußt.

— — — — — — — — — —
Frz.

Straßburg 20/21. XII. 15.

L., ich schrieb Dir schon eben eine Karte von hier; ich hab mir als Weihnachtsgeschenk einen Tag Urlaub genommen um das geliebte Münster wiederzusehen, das mich vor einem Jahr so tief erregte. Der Ausflug ist recht nett gelungen; ich fuhr gestern Abend mit einem Wägelchen von Leiningen nach Bensdorf, stieg dort in den Schnellzug und war 8,40 in Straßburg. Schon die Mondscheinfahrt im Wagen war reizvoll und träumerisch, — erst recht dann der Nachtbummel durch Straßburg. Es ist etwas ganz besonderes, unter diesen Umständen plötzlich in eine Großstadt versetzt zu werden; (— München wirkt nicht so unmittelbar auf mich, da ich es zu sehr kenne, persönliche Interessen habe, nicht allein bin usw.); die ganze, im Grunde abscheuliche Seltsamkeit unsrer Zeit spricht aus einer solchen Stadt; die gegenwärtige Kriegssituation wirft auf alles noch ein besonderes Schlaglicht. Ein Kaffeehaus mit seinen Kartenspielern, Geschäftstypen, armen Kellnerinnen wirkt ganz infernoartig; das Straßenleben wirkt auch merkwürdig unterirdisch, unwahrscheinlich, als wäre es längst vergangen, nur mehr im Bilde da. All die sonderbaren Leidenschaften auf den Gesichtern. Ich sah plötzlich ein Vögelchen auf einem Gesims sitzen und hatte das Gefühl, als wäre dies Vögelchen das einzig Lebendige, unbefangen Wirkliche in einer toten Stadt, in der nur mehr Leichen gehen. Ich verstehe Kubin’s Perle so gut! Er hat dies alles glänzend gesehen. Es machte mich gar nicht besonders melancholisch, — die Kunst wird von diesem Tod nicht getroffen. Aber in einer Sache ging es mir sonderbar; mein Nebenzweck war nämlich gewesen, Dir noch ein kleines Weihnachtsgeschenkchen zu besorgen; ich hatte mir nichts vorgenommen und gedacht, ich werde schon was finden; aber was ich sah, war tot. Ich konnte Dir doch nicht das Vögelchen auf dem Gesims fangen und schicken! Ich konnte mich zu nichts, nicht zur kleinsten Kleinigkeit entschließen, — ich konnte Dir doch nichts Totes schicken. So gab ich’s auf und schreib Dir nur, daß ich nichts schicken und schenken kann, als meine Liebe, meine lebendige warme Liebe, an die Du glauben sollst und glaubst, das weiß ich — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — —! Tröste wir uns beide! Es wird schon wieder alles gut für uns!

Jetzt eß ich noch zu Abend und fahre dann nach Bensdorf zurück, wo mich wieder ein Wägelchen erwartet!

In Liebe
Dein
Fz.

29. XII. 15.

Daß das liebe Amulettchen etwas später kam, macht gar nichts, — ich war Weihnachten so sehr mit den Soldaten beschäftigt, daß ich für mein Weihnachten am 24., 25. überhaupt keine Zeit fand. Am 25. hörte ich ein ganz nettes Konzert in Wirmingen, von einem Infant.-Rgt. veranstaltet, das ein paar Opernsänger und Geiger etc. besitzt. Ein Larghetto und Andante von Händel, eine schmucke geistreiche Musik, mehr blendend und voll Geste, aber nicht wirklich tiefsinnig; schwach gespielter Beethoven, in dem der Romantiker allzusehr hervorguckte u. a. Es hat mich sehr angeregt. Ganz originell war etwas von Adam, — vermutlich Cornelianer; es war etwas aus den 60er Jahren darin, mit großem Reiz.

— — — — — — — — — — — — — —

Laß Dich nie von der Traurigkeit überwältigen, — traurig sein und sehnsüchtig wie ein Adagio ja, — aber Form muß man im Inneren behalten.

Der Brief muß weg, darum schnell Schluß!

— — — —
Fz. M.

Neujahr 16!

Liebste, gutes liebes neues Jahr!

Also heut läuft man schon mit dem neuen Gesicht 16 herum! Die Welt ist um das blutigste Jahr ihres vieltausendjährigen Bestehens reicher. Es ist fürchterlich dran zu denken; und das alles um nichts, um eines Mißverständnisses willen, aus Mangel, sich dem Nächsten menschlich verständlich machen zu können! Und das in Europa!! Man muß wirklich alles umlernen, neudenken, um mit dieser ungeheuerlichen Psychologie der That fertig zu werden und sie nicht nur zu hassen, zu beschimpfen und zu verhöhnen oder zu beweinen, sondern ursächlich zu begreifen und — Gegengedanken zu bilden.

Es ist ein schöner Neujahrstag heut, ein bißchen Frühlingsluft, in der die Neujahrsglocken ganz besonders beweglich klingen. Ich gehe nicht ungern in dieses Jahr, — mein Optimismus ist unzerstörbar; Mangel an Optimismus ist Mangel an Wunschkraft und Mangel an Wille.

Gestern Abend hab ich Dir in Gedanken manches Glas zugetrunken, — und eins besonders: als der Walzer aus Hoffmanns Erzählungen gespielt wurde! (Zither, Geige und Guitarre). Wenn der Friede kommt, muß Wolfskehl ein großes Fest geben und dann werden wir wieder ein paar alte Walzer tanzen. Du kannst es Wolfskehl heut schon von mir ausrichten, daß ich bestimmt darauf rechne.

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10. I. 16.

L.,

gestern Nacht war zum ersten und erstaunten Male wieder ein reiner Sternenhimmel; er war so lieblich wie im Frühling; aber heut morgen war das gleiche öde graue Schmutzwetter wie immer. Ohne Gummimantel kann man gar nicht existieren.

Deine lieben Briefe vom 7. und 8. Jan. sowie das Gundolf-Heft kamen heute. Mich freut die Lektüre auch sehr. Wenn ich ihn ganz und sorgfältig gelesen habe, schreibe ich Dir ausführlich darüber. Es deckt sich ja vieles, was er sagt, fast wörtlich mit meinen Aussagen, die ich schon früher August gegenüber gemacht habe: daß die technischen Errungenschaften (wie z. B. Fliegen, Maschinen, Telefon etc.), die Menschen geistig und wesentlich um keinen Zoll weiterbringen, sondern im Gegenteil stets auf Kosten einer intuitiven, primären Fähigkeit sich entwickeln. Früher fühlte man, wie es einem Freund geht, — heut telefoniert man ihn an; früher konnte man seine Dichterwerke auswendig, — heute stehen sie gedruckt und billig in jedem Bücherschrank. Die Erinnerungskräfte nehmen mit jedem Reproduktionswerk an Intensität ab. Und gar die Maschinen, die dem Menschen die Arbeit „abnehmen“ sollen!! Das alles ist ja einwandfrei klar. Ebenso das Resultat dieses Krieges: Fluch und Strafe, daß wir die Wissenschaften um ihrer praktischen Nutzbarkeit und Anwendung willen betreiben!

Wir schalten die natürlich und gleichzeitig geheimnisvoll wirkende Natur aus, machen uns zu ihrem Herrn, durchrasen Raum und Zeit, äffen ihre chemischen Vorgänge nach, — aber alle unsre Erfindungen wenden sich wie böse Geister gegen uns selbst, — wir fallen von unsern eigenen Waffen, wie ein böses Geschlecht, das sich selbst zerfleischt, weil es in seinem Hochmut und ekelhaften Eindrängen in eine verbotene Geisterwelt (die es gleich praktisch ausnutzen zu können meinte), seinen inneren Halt verlor. Das alles ist sehr klar, auch Gundolfs Grundgedanke, daß unser Kulturleben nicht mehr „leibliche Funktion“ ist, sondern willkürliches Spiel mit organischen Kräften, die man in ihrem Wesen nicht versteht, sondern nur experimentell benützt. Insofern wollte ich auch nie den Leib und das organische Leben verleugnen; meine Sehnsucht zum Abstrakten, zur reinen Linie ist etwas ganz anderes. Ich will erst Gundolf gründlich lesen, um zu sehen, was er und wie er alles meint, — dann schreib ich Dir mehr. —

Die chinesischen Märchen sind noch immer nicht da, — sie kommen schon noch; ich freue mich sehr auf dies Büchlein, — dank voraus Liebe; ich hatte gar nicht mehr dran gedacht, daß ich sie mir eigentlich gewünscht hatte; ich vergesse so was ja immer wieder; aber jetzt freu ich mich sehr darauf. Dank für die Blümchen, — jetzt schon Leberblümchen!! — Ich glaube doch, daß Hanni’s Geschwulst mit Wiederkäuen zusammenhängt — ich bin mir fast sicher; — — —

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Dein
Frz.

12. I. 16.

L.,

ich hab jetzt mit großem Genuß Gundolfs Aufsatz gelesen; so wie ich Dich kenne, verstehe ich völlig, daß er Dir einen solchen Eindruck macht; man kann wirklich mit aufrechtem Gewissen jede Zeile unterschreiben; er begegnet meinen eigenen Gedanken sogar so sehr, daß mich in seinen Anschauungen nichts aufregt oder gar zum Widerspruch reizt. Damit sage ich natürlich nicht, daß ich in meinem bisherigen Leben und Streben nie abgeirrt und durch vieles geblendet worden wäre; aber heute ist mir dies alles so klar, — der Krieg hat alles so klar gemacht. (Es ist wirklich traurig, — man muß den Krieg doch immer noch zuweilen loben!!) Sehr schön und entscheidend formuliert er die eine Thatsache: das schöpferische Werk entsteht aus einer erlebten Fülle, nicht aus einem erkannten Mangel (wie z. B. Strauß’sche Musik und auch * * *’s Arbeiten. Bei * * * denk ich oft: ja, ganz schön, — wohin gehören wohl die Sachen? Welche Lücken können sie heute ausfüllen? Bei Klee werd ich das nie denken; seine Werke sind ganz seine Kinder, — Lebensausstrahlung.)

Über Kandinsky werden wir uns so schnell nicht einigen. Er scheint mir nach wie vor zu den Menschen zu gehören, die aus einer wahren Mitte überraschend weit ausstrahlen (Eigenart slavischer Genies), ohne darum ein ganz wichtiger, dauernder Schwerpunkt und Gesamtmensch zu sein; — er ist auch kein Klotz wie Cézanne und Rousseau. Aber man darf ja seine Toleranz nicht mißverstehen; — ich habe aus den angestrichenen Stellen den Eindruck, daß Du (auch bezüglich meiner Toleranz und Wichtignahme nicht wesentlicher Erscheinungen) das thust. Es kommt wie immer nicht auf das Wort an, sondern auf den Geist, aus dem heraus etwas geschieht. Ich beachte vieles (worüber andre schimpfen und zwar von ihrem engeren Standpunkt aus ganz mit Recht), aus innerem Reichtum. Ich lege noch lieber in irgendeine mißglückte Äußerung eines Menschen meinen Reichtum und meine Phantasie und meine Ahnung hinein, als daß ich achtlos daran vorbei gehe und es um seiner Unvollkommenheit willen verleugne. Große fertige Werke der Weltmitte interessieren mich nie speziell, (z. B. die Antike oder Michelangelo oder Goethe) aber ein kleines simples Glasbildchen oder ein unbekannter armer Kubist kann mein ganzes Innere in Bewegung bringen, — ich beginne daran zu arbeiten. Das ist meine Toleranz und auch Kandinsky’s „Verstehen“. Die Menschen, die nur am Besten, am „schlechthin Gültigen“ sich entzünden können, sind unproduktive, nicht aus der „eigenen Mitte“ lebende, sondern nach-lebende Naturen. Gerade das, was Gundolf so fein (Seite 25 Z. 12 u. 13) meint: „Unfähigkeit zur Anverwandlung und Verarbeitung der zudringenden Materie.“

Am stärksten hat mich Gundolf gegen Schluß seines Artikels interessiert (Seite 32 u. f.), wo er über das Volk schreibt. Ich wurde mir ja nie ordentlich klar über diese Frage; er formuliert sie ausgezeichnet; es gibt eben den Begriff Volk in Europa nicht mehr; man muß sich nolens volens damit abfinden. Alle Konsequenzen dieser Thatsache sind damit natürlich noch nicht gezogen und klargestellt; ich möchte gern einmal mit Gundolf und Wolfskehl darüber reden. Für mich war diese Stelle die wichtigste des ganzen Aufsatzes. Alles andere hatte ich spätestens und restlos in dieser Kriegszeit begriffen.

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Wunderschön ist das ganze letzte Kapitel VII bei Gundolf.

Wenn ich wieder daheim bin, wirst Du in mir sicher keinen Peripheriemenschen treffen, — hab nur keine Angst davor. — — — — —

Lies einmal in Hildebrandts Artikel Seite 98 das wundervolle Bild, das Goethe vom Schaffen gebraucht. In diesem Artikel stehen überhaupt anregende Dinge, vor allem über Sokrates und Plato.

Vergiß bitte nicht, Wolfskehl einmal nach den Sonetten von Shakespeare zu fragen; ich hab manchmal vergeblich versucht, sie englisch zu lesen, — es ist mir zu schwer. Hat Gundolf sie übersetzt? Oder kann er eine andere Übersetzung empfehlen? Dann lasse ich ihn bitten, sie mir einmal zu leihen oder wenn sie billig zu haben sind, besorge sie einmal. Ich bin allerdings sehr skeptisch gegen Übersetzungen. Ich kann ja auch Gundolfs Shakespeare nicht lesen. Luther hat für die Bibel und Schlegel für Shakespeare alles vorweggenommen, — meinetwegen eigenmächtig vergewaltigt, — aber wer mit diesen Büchern aufgewachsen, kann später über den Sinn des Originals nicht neu belehrt werden, so daß er dann einen Shakespeare I und einen Shakespeare II besäße! Es ginge wie mit den Ritterbaumgarten-Bildern von Dürer: die nachdürerische Übermalung war uns Deutschen tausendmal wertvoller in ihrer traditionellen Gestalt als die jetzige Purifizierung.

Hervorragend gut ist die Behandlung des Begriffs „Normal“ (Seite 31). Mich freute auch die Bemerkung (32 oben) über das Pathologische, überhaupt Gundolfs souveräne Haltung gegenüber den Allerweltschlagworten „Normal und Volk“.

Über den Kern des Artikels: „Leib“ kann ich Dir heute noch nicht schreiben, vor allem über die Stelle Seite 12 oben. Nicht als hätte ich einen glatten Einwand gegen diese Stelle, aber mit Worten ist nicht alles gesagt. Askese als „Hygiene des übersättigten Leibes, nicht seine Aufhebung“, — das scheint mir mehr historisch-psychologisch richtig, drückt aber nicht den geistigen Sinn der christlichen Entsagung aus; es liegt sogar ein sehr bedenklicher Opportunismus und Rationalismus in dieser Auffassung. Eine andere Stelle fiel mir auch als Verlegenheits-Phrase auf: S. 33 Mitte: „Das Schöne ist ein Urphänomen und besteht als Überfluß“. Wenn man über das Schöne nichts zu sagen weiß (und bis dato weiß noch niemand etwas darüber zu sagen), — wozu leere Worte gebrauchen?

Nun Schluß. Gestern kam noch Dein traurig gestimmtes Sonntagbriefchen, — also über das Altern machst Du Dir Gedanken? Ich wahrhaftig nicht. Ich war nie frühreif, und bin sicher, mit 40 und 50 Jahren Lebendigeres zu leisten als mit 20 und 30.

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Ich bin sehnsüchtig nach Dir und reite einsam in ganz Lothringen umher, oft viele Stunden.

Dein
Frz.

14. I. 16.

L., Du hast recht: je öfter und genauer man Gundolf liest, desto zwingender ist seine Gedankenführung und wenn er uns auch vielfach nichts Neues sagt, stellt er doch durch seine glänzende Ausdrucksform vieles klar, was man nur im Instinkte fühlte und viel schwächer selber formuliert hatte. Es deckt sich glaub ich im Sinn vieles mit Stellen aus meinem Aphorismus; — so entschwunden diese mir heute sind, werde ich bei Gundolfs Lektüre doch auf Schritt und Tritt an sie erinnert. Vor allem läuft mein Gedankengang über den Sündenfall der reinen Wissenschaften, die sich zur „angewandten Wissenschaft“ mißbrauchen ließ, ziemlich parallel mit Gundolfs Ideen von der Verselbständigung der Organe, — der Mensch ist zum Sklaven seiner Werkzeuge geworden, die er zu seinem Dienst geschaffen hat. Früher war das Wissen und die Bildung nur Mittel zum Zweck, Straße zum Ziel, Speise zum größeren, umfänglicheren Leben, die Kunst diente dem religiösen Ideal.

Sehr fein sagt Gundolf, daß die philosophische Logik um des αγων, des Wettkampfes, der geistigen Hochzüchtung willen geliebt und betrieben wurde, bis langsam die exakte Wissenschaft emporwuchs und vor ihr die alten religiösen Dinge ins Wesenlose verblaßten; diese merkwürdige europäische Entwicklung läßt sich nicht „erklären“, aber auch nicht leugnen, sondern nur feststellen. Und alles kommt darauf an, seine innere adelige Menschenhaltung vor dieser Thatsache zu bewahren, Herr zu bleiben in der neuen Situation; nicht aus dem Geiste des Wissens eine Hure zu machen (wie die Päpste es ihrerzeit aus der christlichen Religion machten, — das war auch „angewandte Religion“!) Das furchtbar Schwierige in unsrer heutigen Aufgabe liegt darin, daß der demokratische Mensch, die gemeine Masse in der Goldgrube der Wissenschaft wühlt und daß man gegenüber dem heutigen Geisteswirrwarr der Millionenköpfe zunächst nur durch gänzliche Isolierung des eigenen Lebens und der eigenen Aufgabe rein bleiben oder sagen wir offen: wieder rein werden kann. Gundolf spricht vom Kampf gegen die Zeittendenz, vom Stellungnehmen gegen sie, — er widerspricht sich hierin selbst etwas; denn der Wirkende setzt seine That nicht da ein, „wo’s fehlt“, sondern er thut sein Werk aus seiner eigenen Mitte heraus, und sieht nicht rechts und links und frägt auch nicht, was zu thun sei. Instinkt ist alles. Es kann uns gänzlich gleichgültig sein, ob wir „verstanden“ werden oder nicht; wir können nur auf uns horchen, nicht auf die Zeit. Das ist wenigstens im Künstlerischen so, — nur so kann man seiner Zeit oder einigen Seelen „vorangehen“.

Bei aller Größe und Schöne, die die christliche Lehre noch für unser Auge hat, dürfen wir als Schaffende uns nicht verleiten lassen, hartnäckig bei ihr unsre Ruhe zu suchen, als wäre dort das letzte Wort gesagt worden. Es wäre derselbe Fehler nach rückwärts, den wir sonst nach der Seite der Gegenwart oder in die blinde Richtung der Zukunft machen; wir können heut nicht malen oder komponieren, was in 100 Jahren wahr ist, sondern nur, was heute für uns selbst wahr ist. Der Hang zum Prophezeien ist ein Zeichen der Schwäche, — insofern behältst Du betreff * * * wohl ein bissel recht; aber schließlich sind wir nicht zu Richtern über unsre Mitmenschen bestellt, sondern zu Freunden; auch verneint eine solche Schwäche noch nicht das ganze Werk, am wenigsten in unsrer traurigen Zeit! Daß die zum Verzweifeln traurig ist, das fühlt wohl bald ein jeder. Aber nur ganz wenige haben die Kraft, sich von ihr loszulösen. Fast bei allen Menschen, denen ich in diesem Krieg nahegekommen bin, hab ich irgendwo einmal in das geheime Fach ihres wirklichen Ichs geguckt, da wo es abgelöst ist und frei; die meisten bewahren es schamhaft als ihr Geheimnis und fast keiner weiß es anzuwenden, sie wollen es auch gar nicht anwenden, aus einer geheimen Furcht, es zu profanieren und eventuell auch noch einzubüßen. In Deiner Sprache heißt dieser geheime Punkt natürlich das Gewissen. Mir ist dies Wort zu vieldeutig, zu sehr Allerwelts-Begriff.

Ich las letzthin in Luthers Tischreden, — köstlich!! Er ist das schlagendste Beispiel für Gundolfs Behauptung, daß der Leib die Mitte des Menschen ist, aus der alles geschieht; diese triebhafte Leibesgesundheit, die aus sich die Geistesblüten treibt, ist bei Luther berückend stark und klar.

 

Vielleicht werd ich Dich bitten, mir Gundolfs Artikel gelegentlich wieder zu schicken, da ich ihn gern * * * zum Lesen geben will; ich hab Dir heute in einem Paket das Buch mit anderem zugesandt, da Du es so dringend bald wieder haben wolltest.

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24. I. 16.

L., einliegend ein so nettes Briefchen von Lisbeth; aus ihm klingt die erwachende Lebensfroheit wieder etwas heraus.

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Ich hab heut einen köstlichen Spazierritt gemacht, — ein strahlender Tag. Ich sehe überall ganz, ganz verwischt Spuren uralter Zeiten, — Lothringen ist ja reich an keltischen und gallischen Erinnerungen; ich hab das Gefühl, daß alles Land, Wege, Häuser, Wälder so ganz vorübergehender Besitz sind, — ich verstehe die Wanderer, die „Habenichtse aus Überzeugung“.

Letzthin sagte mir ein Physiker, in der Physik habe man jetzt entdeckt, daß die alte dritte Dimension, also die mathematisch bis jetzt als einwandfrei gegoltene Bestimmung einer Sache nach seiner kubischen Dimension als wissenschaftlich unhaltbar anzusehen sei, solange die vierte Dimension der Zeit, des Zeitpunktes, nicht noch hinzugenommen wird. In jeder Rechnung sei diese 4. Bestimmung als Potenz mit einzustellen, — wie ist aber noch dunkel. Das wirft die ganze alte Mathematik über den Haufen. Man steht vor einem novum. Ich weiß nicht, ob Du da mitdenken kannst; ich liebe wie Novalis diese Gedankengänge sehr. Ich habe in dieser Richtung ja schon als Gymnasiast Algebraunterricht gegeben, bei dem ich mir lauter solche Sachen allein ausdachte. Leider habe ich zu diesen Dingen genau so wenig praktisches Talent wie zur Musik. — — — — — — Über Deine Stickerei hab ich immer noch nichts gehört.

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Dein
Frz.

2. II. 16.

L., recht gefreut hab ich mich über * * *’s Meldung, daß wieder was verkauft ist, das neue Schafbild — — — — und 2 Holzschnitte, also — — — — — Du hast also bestimmt und ausreichend Geld vor Dir, — von mir kommen auch wieder — — — in den nächsten Tagen; ich sende sie der Einfachheit halber direkt an Muttchen, damit ja keine Schwierigkeiten mit dem Geldempfang entstehen.

Dein lieber Brief vom 27. kam auch heute; nimm’s nicht zu tragisch, wenn ich Dir Lisbeth als Vorbild der Lebensmutigkeit hinstellte; ich bin ja klug genug, die Unvergleichbarkeit Eurer Situationen und Charaktere auch zu sehen. Ich dränge aber auch nicht aus Gedankenlosigkeit zu einer tapferen Fröhlichkeit trotz allen Leides; solange das Blut in einem pocht, muß man an’s Leben glauben und sich nicht mißtrauisch separieren; und Dein Wort: „ich kann nicht“ ist schließlich graduell wie alles im Leben; etwas weniger — etwas mehr, — das ist das Geheimnis des Wartens, Wartenkönnens und der Sehnsucht; der Stolz muß im Menschen siegen über alle Dinge, nicht die indische Trauer.

Daß ich den Krieg als Gesundungsprozeß wie jede (auch die tötlichste) Krankheit ansehe, hat ja natürlich nur den Sinn, daß ich auch den Krieg nicht als solchen angreifen und vertilgen möchte, sondern seine Ursachen. Der Mensch stirbt nicht an der Krebswucherung, sondern an dem tötlichen Keim, den die Wucherung nicht zu überwinden vermag. Auch darf man solche Vergleiche nicht zu weit treiben, sonst hinken sie eben. Aber ich wehre mich unablässig gegen die herrschende Gedankenlosigkeit, den Krieg als solchen so zu hassen als sich selbst, den Aussatz unsrer Seele. — Man muß seine Gedanken nicht gegen den Krieg richten, sondern gegen sich, und sofort damit anfangen. Nichts ist selbstverständlicher, strafgerechter als dieser Krieg. Kein Mensch sieht das, — wenigstens keiner will’s an sich selbst sehen.

— — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — —

3. II. 16.

L., was magst Du bei * * *’s Brief gedacht haben? d. h. ich weiß natürlich, daß Du dasselbe dachtest, wie ich: Mitleid nicht nur mit dem gequälten leiblichen Menschen sondern doppeltes mit seiner Seele und seinem Geist. Er leidet nicht, um die Sünde und Wirrnis des Europäers zu büßen sondern im Gegenteil sie zu glorifizieren. Mich hat ja der Krieg das erstere gelehrt. Wer diese Zeit so erlebt, kann wohl einen Gewinn und Sinn aus dem Kriege ziehen; der kehrt mit einem neuen Welt-Verstand in’s Leben zurück; aber was soll man mit einem Geist wie * * * nach dem Kriege machen? Zudem er zweifellos die immense Majorität darstellen wird; was wie wir denkt, ist ein verschwindend kleiner Bruchteil, wahrscheinlich überhaupt nur ein paar Menschen. Denn die Teile, die auf den Krieg als solchen schimpfen, ohne auf seine tiefsten Ursachen, auf sich selbst zurückzugreifen, — mit denen paktiere ich nicht. Du sagst ganz richtig, daß es so wenig Menschen gibt, die Konsequenzen zu ziehen imstande sind, — darin liegt’s. —

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Eben kommt Dein lieber langer Brief über Koehlerabend, Militarismus usw. — ich kann nur wieder sagen: verschwendet Euren Haß und Eure Trauer nicht am gegenwärtigen Zustand, sondern am allgemeinen. Du siehst sehr gut und scharf, aber zu nah, zu speziell; das Typische erscheint dir nicht, darum kannst du das Spezielle auch so schwer überwinden.

4. II. 16.

L., ich weiß nicht, ob Du das, was ich in meinen letzten Briefen über den Krieg gesagt habe, (Krieg als natürliche Folge und insofern als gerechte, unausbleibliche Sühne), richtig verstehen konntest. Die Dinge im Leben sind so verkettet. Man kann ja zweifellos auch fragen, worin sich denn eine Folge von einer Ursache unterscheide, und ob nicht beide identisch sind oder zum mindesten gleich, sodaß man sie auch vertauschen kann. Was sie voneinander scheidet, ist vielleicht nur der Begriff der Zeit, die zwischen ihnen liegt, — und das nennt man fälschlich „Unterschied“ und unterscheidet Ursache und Wirkung. Es liegt sogar sehr im Menschlichen begründet, den Folgen zu fluchen und an den Folgen zu „leiden“ als an den Ursachen. Das tiefere Leiden ist aber gewiß das Leiden an den Ursachen. In diesem Sinne geschieht es, wenn ich sage, daß der Krieg für mich, für mein Mit-leiden vorüber ist und ich längst, mit pochendem Herzen am Anfang der Dinge, an meinem eigenen Anfang stehe, mit heimlicher Schaffensfreude; mit solchen Gedanken kann man warten ohne stündlich zu schmähen und stündlich kränker zu werden an der Gegenwart. Dahin und dort möchte ich auch Dich und meine Freunde wissen. „Meine Freunde“, — auf die bin ich wirklich neugierig. Gundolf will ich unbedingt kennen lernen. Ich bin sehr neugierig auf die neuen Hefte der Jahrbücher; wir kennen nur 10, 11 und 12. Versäume nicht, Dich zu erkundigen, was seitdem noch erschienen. Vergiß auch bitte nicht, mir den Verlag der Jahrbücher zu ermitteln. Ich habe ja beide wieder heimgeschickt und will nun * * * auf sie aufmerksam machen, kann mich aber des Verlags nicht entsinnen; es ist ein mir unbekannter Name.

Das Wetter scheint sich endlich ausgeregnet zu haben; nach einer kleinen Nebelperiode wird es jetzt immer klarer und frühlinghafter. Nach allen Anzeichen steht uns eine ziemlich harmlose Veränderung bevor, da — d. h. ich darf ordnungshalber nichts darüber schreiben und will diese Vorschrift einhalten; aber die Bemerkung kann dich beruhigen.

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5. Februar 16.

L., ich las nochmals Deinen Bericht über — — — — — ich kann ihn mir einfach nicht vorstellen! Daß das einer der Brennpunkte unsrer doch so aufrichtig, wenn auch unerfahren und naiv gedachten geistigen Bewegung wurde, das der Niederschlag so heißen Bemühens um Erneuerung! Nun, der Krieg ist einer Ernüchterung durch — — — — — zuvorgekommen. Daß Du Dich dort grenzenlos einsam und unbehaglich fühltest, ist ja klar. Auch ich wäre nicht in der Stimmung, die Gesellschaft komisch zu nehmen; man kann sich nur fernhalten und ohne Ärger schweigen; denn es geht mit dieser Sache im kleinen wie mit dem Krieg im großen: man soll nicht über einen Zustand, über das „Zustandekommen“ eines Blödsinns schmähen oder trauern oder lachen, sondern auf das Ur-mißverständnis blicken, auf eigene Schuld. Das ist der einzig reinigende Gedanke. Der Blödsinn stirbt eines Tages an seiner eigenen Leere, nur das schöpferisch Gestaltete bleibt, das was Felsen unter sich hat und keine Mauer vor sich, und was fröhlich bewußt vor sich sieht, nicht trauernd nach allen Seiten oder wehklagend rückwärts.

Dein heutiges Kärtchen berichtet wieder von einem 8seitigen Klagebrief, den Du, weil er „zu“ traurig war, zerrissen hast! Erstens sollst Du keine Briefe, die Du mir schreibst, zerreißen, — Du kannst an ihnen doch nur das Papier zerreißen, nicht die „einmal gewesene und in alle Ewigkeit seiende Thatsache“ dieses Briefes, und zweitens soll ein solcher mutig abgesandter Brief Dich wenigstens nötigen, ihm einen freudigeren Gegenbrief nachzujagen, — statt beides bleiben zu lassen.

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6. II. 16.

L., wenn du mich heute gesehen hättest, müßtest Du wahrlich bald an der „Wirklichkeit“ verzweifeln, oder an meinem Verstand. Ich bin in einem riesigen Heustadel (schönes Atelier!) gestanden und habe auf Militärzeltplanen nach Walterchens Ausdruck „9 Kandinsky’s“ gemalt! Die Sache ist allerdings harmloser, — die „Kunst“ war bei dieser Thätigkeit glücklicherweise ausgeschaltet, wenigstens für die Überzeugung der anderen, — ich selbst hatte sonderbare Empfindungen dabei. Die Geschichte hat einen ganz nützlichen Zweck: Geschützstellungen gegen Fliegersicht und Fliegerphotographie unauffindbar zu machen, indem man sie mit solchen Planen überdacht, die nach grob pointillistischem System und den Erfahrungen der bunten Naturschutzfarbe (mimicry) bemalt sind. Die Entfernungen, mit denen man zu rechnen hat, sind ja riesig, durchschnittlich 2000 mtr. hoch, — sehr viel tiefer geht ein feindlicher Flieger nie. Die photographischen Aufnahmen, die sie aus solcher Höhe machen, werden zu Hause stark vergrößert, — dabei entdeckt man meistens die eckigen Geschützeinschnitte, Munitionslager, die mit viereckigen Zeltplanen zugedeckt sind usw. Durch die Bemalung soll nun das verräterische Bild so verwirrt und aufgelöst werden, daß die Stellung unerkannt bleibt. Die Division wird uns einen Flieger stellen, der die Sache durch photographische Aufnahmen ausprobiert. Ich bin neugierig, wie die Kandinskys auf 2000 mt. wirken. Die 9 Zeltplanen bilden eine Entwicklung „von Monet bis Kandinsky“!

Ich schilderte es auch Koehler, den es gewiß amüsiert. Mich amüsiert ja nichts, was mit Militär und Krieg zusammenhängt, ich bin aber froh, eine solche innere Ruhe und Gelassenheit zu besitzen, daß mich auch nichts eigentlich ärgert oder gar nervös macht. Meine Nerven brauche ich noch zu edlerem Werk als zum Kriegshandwerk.

Jetzt ist schon der 6. Februar, — ein alter Kirchweihjahrestag! Ich erinnere mich so gut noch jener Nächte, Dein geblümter braunroter Rock und der blaue, das sonderbare Gefühl von Bauern- und Körperliebe, — ich „rieche“ noch jene Stunden ganz genau; dazu die Gisela- und Kaulbachstraße!

Von hier ist nichts Neues zu sagen; der Abmarsch scheint wieder auf ganz unbestimmte Zeit vertagt; wenn noch dieser Februar hinter uns ist, haben wir die Hauptwintersgefahr eines Winterfeldzuges hinter uns.

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7. II. 16.

L...., heut nur kurz wegen Russl; ich werde Lina schreiben, daß sie Russl weggibt, an Schneiderhans oder Schuster oder sonst im Dorf. Sie soll ihm dann ab und zu Leckerbissen bringen. Ich zahl gern für den guten alten Kerl eine kleine Pension. Behalten soll sie ihn auf keinen Fall. Findet sich keine nette Gelegenheit, ihn in Pension zu geben, dann soll Schuster ihm eine ehrliche Kugel geben, — besser, es geschieht, wenn ich nicht da bin und Du auch nicht. Aber ich fand ihn das letztemal so greisenhaft geworden, daß der rasche Tod wirklich keine Grausamkeit ist. — — — — — — — — — — — — — —

Etwas sagst du sehr wahr: Berlin ist ein richtiger Seuchenherd schlechter Vaterlandsbazillen. Ein dritter Winterfeldzug? Glaub ich nie!

Das zu denken ist einfach unorganisch. Dieser Sommer entscheidet. Daß ich je als Artill. Beob. kommandiert werde, ist gänzlich unwahrscheinlich. Der General wäre sofort dagegen. Dazu sind jetzt viel Jüngere da.

7. II. 16.

Liebe Lina,

meine Frau schreibt mir von Ihrem Bericht über den Russl und seine ewige Unreinlichkeit und Ansteckungsgefahr und über die gute Hanni. Zunächst lassen Sie sich einmal meinen herzlich gemeinten Dank sagen für die Treue, mit der Sie die Tiere und mein Haus versorgen. Ich weiß sehr gut, daß das gar nicht so leicht ist und viel Umsicht und Liebe dazu gehört. Aber die Hauptsache ist natürlich, daß man dabei gesund bleibt und wird. So gern ich meinen alten weißen Russl habe, so bin ich doch dafür, daß Sie ihn unter allen Umständen fortgeben, und zwar wenn sich eine Gelegenheit findet, zu irgend jemand im Dorf, der ihn nehmen will. Ich will meinem alten Hundekameraden gern sein Gnadenbrot auch bei andern Leuten bezahlen; sie sollen es einmal einen Monat versuchen und dann berechnen, was er ihnen kostet. Sie können ihm ja ab und zu einen Leckerbissen bringen, daß er Sie nicht ganz vergißt; findet sich aber niemand, der ihn in Kost nehmen kann, bitten Sie Herrn Bauer in meinem Namen, dem Russl mit einer ehrlichen Kugel den Schritt ins Jenseits zu erleichtern. Also tun Sie den Russl fort und zwar sogleich auf die eine oder andere Weise. Wenn er nicht bei irgend jemand einen guten Platz findet, ist es besser, Sie lassen ihn erschießen. Aber fortgeben müssen Sie ihn auf alle Fälle. Und dann kurieren Sie sich selber einmal ordentlich aus. Der Welf wird ja auch viel leichter zu halten sein, wenn der Russl nicht mehr im Garten ist. — Daß jetzt genug Futter für Hanni da ist, freut mich. Sorgen Sie nur immer hübsch im voraus dafür, damit es nie ausgeht; und bringen Sie ihr recht oft Haselnuß- und Eichenzweige, an denen sie kauen kann. Sie enthalten Gerbsäure, die für die Tiere sehr notwendig ist.

Mir geht es recht gut; denn unsere Division ist seit 2 Monaten in Ruhe, — ewig wird sie ja nicht dauern, aber der grauenhafte Krieg hoffentlich auch nicht. Ich bin fest überzeugt, daß er in diesem Sommer zu Ende geht. Dann gibt’s auch wieder vergnügtere Zeiten in Ried.

Gute Besserung und herzlichen Gruß

Frz. Marc

p. s.

Ich schicke Ihnen in diesen Tagen auch das Kistchen mit leeren Büchsen zurück.

Nachschrift vom 8. II.

Mir geht immer noch mein Entschluß mit Russi im Kopf herum, — ich kann aber zu keinem anderen kommen; der arme Russl kränkelnd in der fernen Rehhütte, während der Welf scharwenzelnd ums Haus läuft; früher hat Russl doch wenigstens mit seinen Blicken das Küchenfenster beherrscht. Und andrerseits der schlechte Geruch, — das alles deutet auf einen kaputten Magen etc. hin. Glaub mir: es ist das Beste für ihn, wenn er von einem zu traurigen Alter erlöst wird. Ich schrieb es auch Maman. — Wenn Du wieder daheim bist und mußt es dann schließlich doch selber anordnen, wird es Dir auch nur noch viel schwerer und mir auch. Ich werde ihn auf unsrer Hausthüre, ihm und Hanni ein Gedenkschild aus Messing treiben. Ich weiß jetzt ganz genau, wie unsere Hausthüre einmal später aussehen wird. Die alte muß weg.

19. II. 16.

Liebe Maman,

ich weiß nicht, ob Du von meinen kleinen häuslichen Traurigkeiten gehört hast; die gute kleine Hanni ist plötzlich eingegangen. Sie litt ja schon seit November an einer Kehlkopfgeschwulst, schien aber nie besondere Beschwerden davon zu haben, — nun ist sie ziemlich plötzlich, während Maria in Berlin war, erkrankt und gestorben.

Und noch eine 2. Nachricht, die Dich persönlich viel tiefer berühren wird. Dein guter alter Russl ist auch nicht mehr! Ich hab nach langem Bedenken mich doch entschlossen, ihm sein Leiden (wie seinerzeit dem kleinen Trimm) zu verkürzen. Im November erschrak ich ja schon über sein Aussehen; er war trotz der wirklich reichlichen Nahrung zum Skelett abgemagert, roch sehr schlecht und hatte ganz trübe Augen. Lina hat ihn gewiß ordentlich gepflegt, auch während Marias Abwesenheit; sie schrieb mir sehr nette ausführliche Berichte über ihn und Hanni; sie hat ihn auch vom Tierarzt untersuchen lassen, der ihn für sehr alt und schwer nierenleidend erklärte. Er war gar nicht mehr sauber zu halten, die Hütte und der Platz wo er war, floß immer in seinem Wasser; er hatte natürlich auch Würmer wie alle kranken Tiere; nach dem allen fand ich es würdiger und mitleidiger, ihm seinen Eingang in den Hundehimmel zu erleichtern; kranke Nieren, gar bei einem alten Tier, sind qualvoll und nicht zu heilen. Höchstens haben die Herrn Veterinäre noch einen Gewinn davon, — der arme Patient sicher nicht. Wenn ich heimkomme, werd ich ihm schon irgendein künstlerisches Denkmal setzen, — vergessen wird der eigensinnige weiße treue Kerl von uns sicher nie. Die Lina, die sich wie es scheint und wie auch ihre netten Briefe an mich und Maria zeigen, als sehr ordentliches Mädchen bewährt, hat sich alle erdenkliche Mühe gegeben, den Russl zu pflegen, aber schließlich doch ohne Erfolg; er wurde immer hinfälliger und elender und der Geruch immer schlimmer.

Maria ist jetzt in Bonn und schreibt sehr beruhigt und in besserer Stimmung. Lisbeth und Maria hatten sich ja immer schon sehr gern, so grundverschieden sie auch in ihrem Wesen sind oder wenigstens scheinen. Das kleine Waltherchen ist jetzt schon 5 Jahre! Er soll genau wie sein Vater sein, fast unheimlich. An ihm und an dem kleinen Wolfgang (3 Jahre) hat Lisbeth natürlich ihren größten Trost.

Bei uns ist alles beim alten; ich hab immer noch die Kolonne und natürlich ziemlich viel zu thun.

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13. II. 16.

L., ich wollte, Du könntest einmal bei der Briefkontrolle neben mir sitzen und manche von diesen Liebesbriefen mitlesen. Schon die Stimmung auf dem Couvert:

An Frl. Zenzi Duffner
zum Köpferl in der Wis
Post Miesbach

und dergleichen. Und manches ist so reizend und rührend ausgedrückt; oder so lakonische Bemerkung: jatzt, wan der Krieg no lang dauert, wer i ungemütlich. Daß Niestlé diese Briefe nicht lesen kann!

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Heute erzählte jemand, daß wenn der deutsche Tagesbericht funkentelegraphisch über ganz Deutschland geht, der Eiffelturm sehr oft grob dazwischen diktiert: „ist gelogen“, „Prahlerei“ usw. Ist das nicht unglaublich? Diese Vorstellung, daß der Eiffelturm so dazwischenschimpft!

 

Man bringt mir eben meine Post, die den Tod unsrer armen lieben kleinen Hanni meldet. Wie traurig hat mich das gemacht! Lina schrieb es mir gleichzeitig. Zu helfen war da natürlich nicht mehr. Sie ist wenigstens nicht allein gestorben und hat die pflegenden Hände sicher wohltätig gespürt. Ich leg Dir Linas Brief bei. Ob nur die Schwächung durch die Geburt und schwache Ernährung schuld ist, möchte ich sehr bezweifeln. Wild darf nicht stark gefüttert werden; Heu bekam es ja wohl, soviel es wollte. Schon die Drüsenanschwellung ist das Symptom irgendeiner inneren (wohl Blut-)Krankheit, die dann in einer Darmkolik endete. Ich kenne es bei Pferden jetzt so gut. Das Tierchen hat ein friedliches, liebes Leben bei uns gehabt, — so denke ich auch nicht weh an Hanni zurück, — und an Russl auch nicht; denn ich schrieb Lina, daß ihn Bauer unbedingt schmerzlos in seinen Hundehimmel schicken soll. Schon im November war mir klar, daß er an einer schweren Alterskrankheit leidet; Linas Brief schildert sie ja so gut, daß ich mich sofort entschieden habe. Es wäre grausam, ihn leben zu lassen in dem einsamen Rehhüttchen und überhaupt. An ihm herumdoktern hat gar keinen Sinn. Halte Dir, wenn Du heimkommst und kein Lämmchen halten willst, ein Vögelchen.

Der arme Dietzel!! Du schreibst: kein Mensch hat das Recht, dem andern das Leben zu nehmen. Ich sage: kein Mensch hat das Recht, den andern auszubeuten, ihm in den Weg zu treten, dem Geld einen solchen Schups zu geben, daß es zu einem rollt u. s. f. Der Krieg ist nur die Folge im Großen, der Bazillus und die Krankheit sind für mich dasselbe. — Februar-Urlaub ist unmöglich; ich führe ja noch immer die Kolonne ganz allein und kann nicht weg.

Aber es geht mir famos.

22. II. 16.

L., voraus einmal Lisbeth meinen Dank für die köstliche Tunisaufnahme von August, — wie besonnt und harmlos glücklich reitet da der gute schwere August auf seinem Esel, nicht ganz jesusgleich; es fehlt auch der Jünger Moilliet; im Hintergrund ist wohl Klee mit einem seiner Malapparate in der Hand? ich freu mich recht über diese kleine Aufnahme; sie zeigt denselben vergnügten August wie wir ihn in Paris um uns hatten.

Was Du von August’s hinterlassenem Reichtum schreibst, freut mich riesig. Freilich erfüllt diese posthume Lebendigkeit mit doppeltem Weh über den Weggang dieses Menschen; aber der jähe Weggang durch eine feindliche, fast möchte man sagen: befreundete Kugel, — denn es war eine französische — scheint mir doch nicht ungereimter als der Tod von M.’s Frau oder irgendein anderes, „natürliches“ Unglück. Auch der Krieg ist naturhaft; es ist nicht haltbar, wie Du es immer thust, den Krieg gänzlich außerhalb des natürlichen Geschehens zu stellen. Die Massensuggestion, die er zweifellos darstellt, ist naturhaft bedingt so gut wie die Thetsefliege oder ein Pestbazillus. Mein Blick hat sich längst ganz vom Krieg abgewendet. Mein Wesen sucht allerdings nicht die Indifferenz von * * * und * * * zu gewinnen, sondern ist nur ein für allemal belehrt, geheilt und zurückgeschleudert von den Peripherien früherer Interessiertheit in’s alte verlassene Zentrum der reinen Funktion. August ist diesem Zentrum von jeher näher gestanden; er war keine ausgreifende, immer fragende, unerlöste Natur wie ich.

Wie freut es mich, daß Du Dir jetzt wirklich das Malen und Sticken in Ried vornimmst, — führ es wirklich durch und führ Dein Wesen ins Fruchtbare statt in die Wüste des ewigen Jammerns und womöglich Hasses, der nie was gutes erzeugen kann.

Du willst später mehr Sachen von mir aufhängen? Meinethalben, — wenn Dir dann nicht mein lebendiger Leib genügt! Was mich früher immer abgehalten hat, mich mit meinen eigenen Erzeugnissen zu umgeben, ist eine scharf gefühlte — Scham vor der eignen Produktion; dies Gefühl ist schwer erklärbar, — es geht auf den Moment der Schöpfung zurück, in dem an Stelle des persönlichen Willens der rätselhafte Zwang einer Eingebung trat. Ich weiß von so vielen und gerade meinen stärkeren Sachen absolut nicht mehr wie sie entstanden sind; ich wundre mich, daß ich sie gemacht habe und sie beunruhigen mich. Selbst beim Durchblättern meiner Skizzenbücher erschrecke ich zuweilen förmlich.

Heut war ein strahlend schöner Tag, voll Anmut und Farbe und voll Heimweh! Seid beide umarmt und lieb gegrüßt und geküßt von Eurem Frz.

Empfiehl mich bitte bei den schön stickenden Müttern, — dies im Geiste August’s Arbeiten ist rührend.

17. II. 1916.

Liebe Maman.

Ich verstehe sehr, wenn Du so ruhig vom Tode sprichst wie von etwas, was Dich nicht schreckt. Ich fühle genau so. In diesem Kriege hat man’s ja an sich erproben können, — eine Gelegenheit, die das Leben einem sonst selten bietet, da man im täglichen Leben die Todesgefahren meist nicht sieht und zum mindesten an sie nicht glaubt. Es ist mir aber im Kriege nie eingefallen, die Gefahr und den Tod zu suchen wie ich es in früheren Jahren des öfteren gethan habe, — damals ist der Tod mir ausgewichen, nicht ich ihm; aber das ist lange vorbei! Heute würde ich ihn sehr wehmütig und bitter begrüßen, nicht aus Angst oder Unruhe vor ihm, — nichts ist beruhigender als die Aussicht auf Todesruhe — sondern weil ich ein halbfertiges Werk liegen habe, das fertig zu führen mein ganzes Sinnen ist. In meinen ungemalten Bildern steckt mein ganzer Lebenswille. Sonst aber hat der Tod nichts Schreckhaftes; er ist doch das allen Gemeinsame und führt uns zurück in das normale „Sein“. Die Strecke zwischen Geburt und Tod ist der Ausnahmezustand, in dem es viel zu fürchten und zu leiden gibt, — der einzige wirkliche, konstante, philosophische Trost ist das Bewußtsein, daß dieser Ausnahmezustand vorübergeht und daß das immer unruhige, immer pikierte, im Ernste ganz unzulängliche „Ich-Bewußtsein“ wieder in seine wundervolle Ruhe vor der Geburt zurücksinkt; es scheint mir gänzlich gleichgültig, ob man das nun pantheistisch wie Spinoza oder buddhistisch oder schintoistisch (wie im alten geistvollen Japan) oder christlich wie Pascal ausdrückt, — das Wesentliche des Gedankens über Leben und Tod ist immer dasselbe geblieben. Die Idee, daß man sich durch schlechte Verwaltung seines biblischen Pfundes im Leben die süße Ruhe des ewigen Lebens stören könnte, ist wohl eine allzumenschliche, allzugrausame Erfindung. Wer schlecht thut und wer nichts thut — der hat die Strafe schon im Leben davon, in seinem Gewissen und in seiner — Todesfurcht. Diese Leute können das Leben nicht rein genießen (so sehr sie sich auch den Anschein geben), weil sie viel zu viel Angst vor dem Tode haben, der ihnen „alles“ nimmt. Wer aber nach Reinheit und Erkenntnis strebt, dem kommt der Tod immer als Erlöser.

Das ist jetzt die reine Predigt geworden! So war’s eigentlich nicht gemeint. Aber nun steht sie einmal da und Du darfst es Deinem Platoniker nicht verdenken. Aber zunächst wollen wir uns im Leben und zwar gesund wiedersehen!

25. II. 16.

L.,

großer Reise- und Truppenbetrieb, aber bis jetzt ziemlich harmlos. Immer noch im alten gleichen Zirkel; wir kleben an den alten Plätzen, als ob’s gar keinen andern Kriegsschauplatz gäbe. Mir ist’s ja gleich, wo ich bin. Das Wetter ist auch schon wieder mild. — Ich bin aber von unserm zehnstündigen Ritt so hundsmüde, daß ich zu nichts anderem fähig bin als zum Schlafen. Hab auch gutes Zimmer und Bett. Schlaf süß, mein liebes Lieb, mit Küssen und sehnsüchtigen Gedanken

Dein
Fz.

Gruß an Lisbeth und Walter.

27. II. 16.

L.,

nun sind wir mitten drin in diesem ungeheuerlichsten aller Kriegstage. Die ganzen französischen Linien sind durchbrochen. Von der wahnsinnigen Wut und Gewalt des deutschen Vorsturmes kann sich kein Mensch einen Begriff machen, der das nicht mitgemacht hat. Wir sind im wesentlichen Verfolgungstruppen. Die armen Pferde! Aber einmal mußte dieser Moment ja kommen, in dem alles eingesetzt wird; aber daß es gelang (und es wird sicher noch weiter gelingen) und zwar gerade am stärksten Punkt der franz. Front: Verdun, — das hätte niemand geahnt, das ist das Unglaubliche. Einliegendes Bild ist noch in Leiningen gemacht St. und ich.

Mit Küssen
Dein
Fz.

Ich bin sehr frisch und guter Dinge voll, Gruß an Lisbeth.

28. II. 16.

L.,

es geht mir gut. Wetter leidlich. Wir sind freilich wieder zur Primitivität der ersten Kriegswochen zurückgekehrt. Aber ich fühl mich ganz frisch und bin guter Stimmung. Bleib’s Du auch.

Grüße. In Liebe

29. II. 16.

L., eben habe ich eine ruhige Minute in einem französischen Unterstand um Dich zu grüßen, was ich so hundertmal im Tage thue. Sei versichert, es geht mir nicht schlecht. Es ist halt doch was anderes, als Offizier einen Bewegungsfeldzug mitmachen wie ehemals als U.-Off.! Aber die Arbeit und Verantwortung ist natürlich oft riesig. Wir sind jetzt zu zweit, Lt. M. und ich und haben doch zuweilen kaum die Kraft, unsrer Riesenkolonne die innere Organisation zu erhalten. Ich kann allerdings nicht leugnen, daß diese Arbeit, die viel moralische Kraft erfordert, für mich nicht ohne Reiz ist. Solange der Manöverbetrieb in L. war, war es mir oft innerlich sehr peinlich. Jetzt aber weiß man, wozu man Offizier ist und auf seinem Posten steht. Über das Eine freu ich mich: daß meine Nerven von einer wirklich erstaunlichen Unberührtheit sind. Von meiner Verwendung als Artilleriebeobachter kann jetzt natürlich gar keine Rede sein, — Du brauchst Dich in keiner Weise zu ängstigen. Ich bin neugierig wie diese ganze Operation noch hinausgeht, — wir sind gänzlich ohne Nachrichten. Von München kam etwas Post, von Dir leider nichts. Man muß sich gedulden. Ob Du wohl noch in Bonn bist? Ich schreibe Dir gleichzeitig ein Kärtchen nach Ried für alle Fälle. Dieser tiefbeschämende schmachvolle Krieg muß ja jetzt bald ein Ende nehmen. Ich bin ganz vertrauensvoll. Mit Küssen und Streicheln

Dein guter alter
Franz.

29. II. 16.

L., ich schrieb Dir gleichzeitig nach Bonn, — ich hab von Dir lang keine Post mehr bekommen. Ich kann Dir nur beruhigendes von mir berichten; ich fühl mich körperlich sehr frisch und erhalte mir auch mitten in diesem Kriegsgetümmel mein inneres Gleichgewicht. Immer kaut man an dem immer rätselvolleren Rätsel herum, wie dieser Krieg nur möglich ist! Europäer! Es ist schrecklich. — Aber alle Dinge haben ihr Ende, auch die schlechtesten und furchtbarsten. Man hat natürlich so viel zu thun, daß an ein wirkliches Schreiben nicht zu denken ist. Nun kommt schon bald richtiges Frühjahr nach Ried! Ich denke immer daran!

2. III. 16.

L., gestern Abend kam Dein Kärtchen vom Rautenstrauchmuseum und Lisbeth’s lieber Brief mit Deinem Zusatz. Es freut mich so, daß Ihr beide Euch zusammen wohl fühlt und Anregungen austauscht. Laß mich nur wieder da sein, dann soll das Leben schon wieder seinen alten Schimmer bekommen. Wir sind heraußen wohl genau wie Ihr fiebrig gespannt auf den Ausgang dieses riesigen Kampfes, den Worte nie werden schildern können. Ich zweifle keine Minute an dem Fall von Verdun und dem darauffolgenden Einbruch in das Herz des Landes, wohl von einem andern Platze. Aber wie furchtbar ist das! Ich bin wohlauf und verliere meine gepanzerte Ruhe nicht. Seid beide und die Kinder vielmals herzlich gegrüßt und Du tief geküßt von Deinem

tr.
Fr.

p. S. Wir sind heut Nacht wieder in festes Quartier gekommen, natürlich Ruinen aber völlig außer Schießentfernung; Pferde zum erstenmal im Stall! Dein Geburtstagsbrief ist gefunden! Denk Dir!! Auf welche Weise, schreibe ich Dir noch!

2. III. 16.

L.,

ich benutze die Gelegenheit eines Krankheitsurlaubes, um Dir auf diesem Wege sichere Nachricht von mir zu geben. Ich vermute natürlich Postsperre. Wir stehen natürlich mit in der Riesengeschichte im Westen, schauerlich und ungeheuerlich wie es Worte nie werden schildern können. Ich führe mit Lt. M. zusammen unsre Kolonne unter schwierigsten Umständen; aber es geht alles. Und gottlob geht es bis jetzt auch gut. Wir sind 10 Kilom. durch die französische Front durch. Wir hausen nachts in den französischen Unterständen. Die Pferde sind seit unserm Abmarsch (25.) nicht mehr aus dem Geschirr gekommen.

Ich selbst fühle mich wohl und frisch, — meine Nerven sind unberührt, daß ich oft selbst staunen muß; Dinge, die mein eigentliches wahres Wesen nichts angehen, berühren mich überhaupt nicht mehr. Jetzt ist übrigens der Moment gekommen, in dem ab und zu ein gutes Päckchen (Schokol. Gilka, Stück Hartwurst u. dergl.) hochwillkommen sein wird. Wie mag nur diese Riesensache hinausgehen?! Ich zweifle nicht, daß Verdun fallen wird, — aber ob es dann gelingt, den grausamen Stoß in’s Herz des armen Frankreich zu führen! Seit Tagen sehe ich nichts als das Entsetzlichste, was sich Menschenhirne ausmalen können.

Ich freute mich gestern über eine Karte von Dir und Lisbeth’s Brief, in dem Du auch was geschrieben; es ist so beruhigend für mich, Euch jetzt beisammen zu wissen und zu hören, daß Ihr Beide Euch Menschliches und Künstlerisches zu sagen habt. Bleib nur ruhig und sorg Dich nicht; ich komme Dir wieder. — Der Krieg geht in diesem Jahr zu Ende.

Ich muß schließen, der Krankentransport, der diesen Brief mitnimmt, geht fort. Bleib auch Du gesund und ruhig wie ich und laß Dich küssen und laß uns in Gedanken immer beisammen sein. Grüß Lisbeth und die Kinder.

4. III. 16.

L., denk Dir: heute bekam ich ein Briefchen von meinen Quartierleuten in Maxstadt (Lothr.), das Deinen Geburtstagsbrief enthielt! Die Frau hatte ihn doch, trotz meines damaligen Suchens, in einem der Kartons gefunden! Ich hab mich schon ein bißchen geschämt aber auch doppelt gefreut, daß ich ihn nun doch habe: Du schreibst so lieb darin; ja, dieses Jahr werde ich auch zurückkommen in mein unversehrtes liebes Heim, zu Dir und zu meiner Arbeit. Zwischen den grenzenlosen schaudervollen Bildern der Zerstörung, zwischen denen ich jetzt lebe, hat dieser Heimkehrgedanke einen Glorienschein, der gar nicht lieblich genug zu beschreiben ist. Behüte nur dies mein Heim und Dich selbst, Deine Seele und Deinen Leib und alles was mir gehört, zu mir gehört!

Momentan hausen wir mit der Kolonne auf einem gänzlich verwüsteten Schloßbesitz, über den die ehemalige französische Frontlinie ging. Als Bett hab ich einen Hasenstall auf den Rücken gelegt, das Gitter weg und mit Heu ausgefüllt und so in ein noch regensicheres Zimmer gestellt! Natürlich hab ich genug Decken und Kissen dabei, so daß sich ganz gut drin schläft. Sorg Dich nicht, ich komm schon durch, auch gesundheitlich. Ich fühl mich gut und geb sehr acht auf mich. Dank viel-, vielmal für den lieben Geburtstagsbrief!

— — —

Am gleichen Tag nachmittags 4 Uhr gefallen!

Aufzeichnungen

Aufzeichnungen auf einzelnen Blättern aus früheren Jahren vermutlich 1911-12.

Gibt es für Künstler eine geheimnisvollere Idee als die Vorstellung, wie sich wohl die Natur in dem Auge eines Tieres spiegelt? Wie sieht ein Pferd die Welt? oder ein Adler, ein Reh oder ein Hund? Wie armselig, seelenlos ist unsre Konvention, Tiere in eine Landschaft zu setzen, die unsern Augen zugehört statt uns in die Seele des Tieres zu versenken, um dessen Bildkreis zu erraten.

 

In diesem Gedanken stecken viele; versuchen wir seine Kristallisationskraft zu prüfen.

Er zeigt uns verächtlich den strengen allzuengen Zirkel zum Bewußtsein, in dem wir Maler uns bewegen.

 

Hat es einen Sinn, einen Apfel zu malen und dazu die Fensterbank, worauf er liegt?

Was hat der schöne runde Apfel mit der Fensterbank gemein? Wenn man das Problem auf „Kugel und Fläche“ stellt, so fällt der Begriff Apfel im Ernste weg; man geht dabei einen interessanten Seitenweg, den uns wundervolle Maler heute entdeckt haben; wenn wir aber den Apfel, den schönen Apfel malen wollen? oder das Reh im Wald? oder die Eiche?

 

Was hat das Reh mit dem Weltbild zu thun, das wir sehen? Hat es irgendwelchen vernünftigen oder gar künstlerischen Sinn, das Reh zu malen, wie es unsrer Netzhaut erscheint oder in kubistischer Form, weil wir die Welt kubistisch fühlen?

Wer sagt uns, daß das Reh die Welt kubistisch fühlt; es fühlt sie als „Reh“, die Landschaft muß also „Reh“ sein. Das ist ihr Prädikat. Die künstlerische Logik von Picasso, Kandinsky, Delaunay, Burljuk etc. ist vollkommen und einwandfrei; sie „sehen“ das Reh gar nicht und kümmern sich nicht darum; sie gaben „ihre“ innerliche Welt, — das Subjekt im Satze. Naturalisten gaben das Objekt. Das Schwerste, im Grunde auch das Wichtigste, das Prädikat wird selten gegeben. Das Wichtigste in einem Gedankensatze ist das Prädikat. Subjekt ist seine Prämisse. Das Objekt ist belangloser Nachklang, der den Gedanken spezialisiert, banalisiert. Ich kann ein Bild malen: Das Reh. Pisanello hat solche gemalt. Ich kann aber auch ein Bild malen wollen: „Das Reh fühlt“.

Wie unendlich feineren Sinn muß ein Maler haben, das zu malen! Die Ägypter haben es gemacht. Die „Rose“. Manet hat sie gemalt. Die Rose „blüht“, wer hat das „Blühen“ der Rose gemalt? Die Inder. Das Prädikat.

 

Wenn ich einen Kubus darstellen will, kann ich ihn darstellen, wie man gelehrt wird, eine Zigarrenkiste oder dergleichen zu zeichnen. Damit gebe ich seine äußere Form wie sie mir optisch erscheint, das Objekt, nichts weiter und kann es gut oder schlecht machen. Ich kann aber auch den Kubus darstellen, nicht wie ich ihn sehe, sondern was der Kubus ist, sein Prädikat.

Die Kubisten waren die ersten, die nicht den Raum gemalt haben, das Subjekt, sondern von dem Raum etwas „ausgesagt haben“, das Prädikat des Subjekts gegeben haben.

Typisch ist bei unsern besten Malern die Vermeidung des Lebendigen. Die sogenannte tote Natur suchen sie mit ihrem Geist lebendig zu machen.

 

Man gibt das Prädikat der stillen Natur; das Prädikat des Lebendigen zu geben, bleibt ungelöstes Problem.

 

Kandinsky liebt das Lebendige leidenschaftlich, macht es aber zum Schemen, um zur großen künstlerischen Form zu kommen.

 

Wer vermag das Sein des Hundes zu malen, wie Picasso das Sein einer kubischen Form malt? (im Themastil der Musiker).

 

Ich muß mich, ohne Aufforderung, gegen den Gedanken wehren, daß am Ende Leser, aus der Thatsache, daß ich oft Tiere male, den unberechtigten Schluß ziehen, ich dächte bei diesen Erörterungen an meine eigenen Sachen. Die Sache liegt vielmehr so, daß die Unzufriedenheit über mein eigenes Schaffen mich zum Nachdenken zwingt und diese Zeilen hervorruft.

 

Das Groteske:

aus der Alltäglichkeit herausgenommen, wirkt daher viel stärker; man hat das Gefühl des Eigenlebens, dem man ohne Prämissen glaubt, gern glaubt, wie Märchen.

Größer ist die naive Darstellung, die die Wirkung des Grotesken (das oft ein billiges, gefährliches Mittel ist) erreicht.

1912?
Einzelne Blätter.

3.

Was wir unter „abstrakter Kunst“ verstehen.

Was heute von abstrakter Kunst existiert, ist nicht viel und das Existierende ist Stückwerk und Gestammel. Es ist der Versuch, statt unsre vom Weltbild erregte Seele, die Welt selbst zum Reden zu bringen. Der Grieche, Gothiker und Renaissancekünstler stellte die Welt künstlerisch dar wie er sie sah, wie er sie fühlte, wie er sie wollte; der Mensch früherer Zeiten wollte durch die Kunst vor allem sich befruchten; er hat auch erreicht was er wollte, — er hat aber auch alles dafür hingegeben, alles hat er dem einen Ziel geopfert: den Homunculus zu konstruieren, die Kraft durch das Präparat zu ersetzen, Geist durch Technik. Der Affe äffte seinem Schöpfer nach. Selbst die Kunst zwang er zu Handlangerdiensten.

Der Berg ist erklommen. Der Gipfel ist eine Öde, in der sich der Mensch nicht lange aufhalten wird. Wir leben schon auf der „anderen Seite“, auf der Seite der Nichteitelkeit, der Nichtanwendung des Wissens. Das Können und das Wissen tragen wir in uns; tonlos; über die Technik des Daseins redet der Edle nicht. Nur das Eine muß geschehen: die Befreiung der Kunst aus ihrer Maskierung. Die Kunst ist heute nicht mehr dazu da, den Menschen zu großen oder kleinen Vorwänden zu dienen.

Die Kunst ist metaphysisch, wird es sein; sie kann es erst heute sein. Die Kunst wird sich von Menschenzwecken und Menschenwollen befreien. Wir werden nicht mehr den Wald oder das Pferd malen, wie sie uns gefallen oder scheinen, sondern wie sie wirklich sind, wie sich der Wald oder das Pferd selbst fühlen, ihr absolutes Wesen, das hinter dem Schein lebt, den wir nur sehen; es wird uns soweit gelingen, als es uns gelingt, die traditionelle „Logik“ von Jahrtausenden beim künstlerischen Schaffen zu überwinden. Alles künstlerische Schaffen ist alogisch. Es gibt künstlerische Formen, die abstrakt sind, mit Menschenwissen unbeweisbar; sie hat sie zu allen Zeiten gegeben, aber stets wurden sie getrübt von Menschenwissen, Menschenwollen. Der Glaube an die Kunst an sich fehlte, wir wollen ihn aufrichten: er lebt auf der „anderen Seite“.

4.

Wir müssen von nun an verlernen, die Tiere und Pflanzen auf uns zu beziehen und unsre Beziehungen zu ihnen in der Kunst darzustellen. Das ist vorbei, muß vorbei sein oder wird wenigstens eines Tages, — oh des glücklichen Tages! — vorbei sein. Jedes Ding auf der Welt hat seine Formen, seine Formel, die nicht wir erfinden, die wir nicht mit unsern plumpen Händen abtasten können, sondern die wir intuitiv in dem Grade fassen, als wir künstlerisch begabt sind. Es wird immer Stückwerk bleiben, solange wir in diesem erdgebundenen Dasein stehen, — aber glauben wir nicht alle an die Metamorphose? Wir Künstler alle, weshalb suchten wir ewig die metamorphen Formen? Die Dinge wie sie wirklich sind hinter dem Schein?

5.
Die absolute Malerei.

Die Dinge reden: in den Dingen ist Wille und Form, warum wollen wir dazwischen sprechen? Wir haben nichts Kluges ihnen zu sagen. Haben wir nicht die tausendjährige Erfahrung, daß die Dinge um so stummer werden, je deutlicher wir ihnen den optischen Spiegel ihrer Erscheinung vorhalten? Der Schein ist ewig flach, aber zieht ihn fort, ganz fort, ganz aus eurem Geiste weg, — denkt euch fort samt eurem Weltbild, — die Welt bleibt in ihrer wahren Form zurück und wir Künstler ahnen diese Form; ein Dämon gibt uns zwischen die Spalten der Welt zu sehen und in Träumen führt er uns hinter die bunte Bühne der Welt.

Grenzen der Kunst.

— — — Am freiesten arbeiten glaub ich die zwar äußerst seltenen Dichter; wenigstens haben die Schriftsteller es beim Publikum durchgesetzt, daß bei ihnen der Mond in die Zimmer spazieren darf; man darf sogar eine Sonne im Herzen tragen, Sterne herunterholen usw. Aber lassen Sie einmal einen Maler den Mond in einer Stube aufhängen oder auf den Tisch legen usw. Manches ist auf Verordnungswegen erlaubt worden, z. B. einem Pferde Flügel ansetzen; aber man muß das Patent „Pegasus“ darunter schreiben.

Religiöses.

Es ist unglaublich, wie wenig die Menschen von heute aus Museen lernen. Warum schaffen sie Museen, wenn sie nicht daraus lernen wollen? Und sie könnten alles daraus lernen, nämlich das Eine, Große, daß es keine große und reine Kunst ohne Religion gibt, daß die Kunst desto künstlerischer war, je religiöser sie gewesen (und umso künstlicher, je unreligiöser die Zeit war). Auch haben die vollkommen recht, die sagen, daß echte Kunst mit unsrer wissenschaftlichen und technischen Zeit unvereinbar ist, — nur glaube ich, irren sie, wenn sie denken, daß die Kunst sterben wird. Vielmehr ist gewiß, daß die Wissenschaft und Technik zu kleinen Nebendisziplinen unseres Lebens herabsinken werden; der Taumel über unsre Klugheit wird sich bald legen und die Kunst wird wieder zum großen Gott, ja die Begriffe Gott, Kunst und Religion werden wiederkommen; neue Symbole und Legenden werden in unsre erschütterten Herzen einziehen.

Gibt es ein kläglicheres Schauspiel als das Entzücken unsrer Leute über den Fortschritt der Wissenschaften und der Technik? Gibt es etwas Beschränkteres und Traurigeres als das Triumphgefühl unsrer Leute, alle Religionen überwunden zu haben? Das glauben sie nämlich, die „guten Mitteleuropäer“. Auf was stützen sie ihren Dünkel? z. B. auf Maschinen. Als ob es irgendeine Maschine gäbe, die nicht schlechteste Imitation vergangener Handarbeit des Menschen ist. Surrogat an dem der Geist verhungert. Eisenbahn — die platteste Plebejererfindung; Flugmaschine, — kann sie irgendwie dem Geiste dienen? Direkte Beförderung von A nach B, Luftlinie. Das ist doch nichts besonders Geistreiches. Im Gegenteil höchst plebejisch, so gefährlich zu eilen. Der einzige Witz unserer gesamten modernen Technik ist offenbar der, uns vom Denken abzuhalten, Geist zu sparen. Wer mit Geist und in Gedanken heute geht, wird wegen Verkehrsstörung in Haft genommen oder überfahren. Es wird aber eine Zeit kommen, in Bälde, da wird man unsre ganze Technik und Wissenschaft grenzenlos langweilig finden; man wird sie vollkommen liegen lassen, ja vergessen; man wird gar keine Zeit dazu haben, weil man mit geistigen Gütern handeln wird.

Aus den 100 Aphorismen: Das zweite Gesicht.
Geschrieben Anfang 1915 im Felde.

1.

— — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — —

Jedes Ding hat seinen Mantel und Kern, Schein und Wesen, Maske und Wahrheit. Daß wir nur den Mantel umtasten ohne zum Kern zu gelangen, daß wir im Scheine leben, statt das Wesen der Dinge zu sehen, daß uns die Maske der Dinge so blendet, daß wir die Wahrheit nicht finden können, — was besagt das gegen die innere Bestimmtheit der Dinge?

9.

Vom ersten Moment des Kriegsausbruches an war mein ganzes Sinnen darauf gerichtet, den Geist der Stunde aus ihrem tosenden Lärm zu lösen. Ich verstopfte mein Ohr und suchte dem Kriegsgespenst in den Rücken zu sehen. Alle Zeichen des Krieges stritten wider mich. Sein Gesicht blendete mich, wohin ich mich wandte. Der Denker meidet das Gesicht der Dinge, da sie niemals das sind, was sie scheinen.

Ich zweifelte nie, daß die Europäer durch diesen Krieg nicht das erreichen, was sie wollen und sagen. Sie wollten ihn ja nicht einmal, wie sie alle beteuern! Aber ein geheimes, ihrem Wissen und Willen fremdes Wollen rauschte in ihrem Blute und brach aus „wider Willen“.

— — — — — — — — — —

15.

Die Weltgeschichte hat ihre immanenten, vor dem Menschenauge sorglich verheimlichten Gesetze, die erst der prometheische Mensch des 19. und 20. Jahrhunderts zu enträtseln begann, als er mit seiner ehernen Wissenschaft von den Gesetzen der Natur auf ihren Schleichwegen folgte.

Unser Wissen verfing sich am ersten in den Dingen, die unsrer Menschlichkeit am fernsten lagen: man begann mit den Sternen und Zahlen, um heute endlich die Wissensformel gegen den Menschen selbst zu kehren.

Alles, das Größte ist heute in den Anfängen.

— — — — —

23.

Es ist immer noch besser mit aller Glut auf eine regenerative Wirkung des Krieges zu bauen als in den Unkenruf der Pessimisten, der Ideenarmen und Müden einzustimmen; denn auch nur wir allein, unser heller Wille bestimmt das weiße Schicksal.

25.

Wir werden im 20. Jahrhundert zwischen fremden Gesichtern, neuen Bildern und unerhörten Klängen leben.

Viele, die die innere Glut nicht haben, werden frieren und nichts fühlen als eine Kühle und in die Ruinen ihrer Erinnerungen flüchten. Wehe den Demagogen, die sie daraus hervorzerren wollen. Alles hat seine Zeit und die Welt hat Zeit.

30.

Kunst ist nur selten da. In den langen Pausen der Geschichte, in denen die Kunst fern ist, nennt man Anderes, Ähnliches, ach sehr Unähnliches, Unmögliches Kunst. Vielleicht will es ein kleines Bedürfnis so. Aber wo ein Bedürfnis, eine Nützlichkeit nach Kunst schreit, haben wir schon keine Kunst mehr, keinen Willen zur Form mehr.

31.

— — — — —

Traditionen sind eine schöne Sache; aber nur das Traditionen-schaffen, nicht von Traditionen leben.

32.

Jeder Formbildner und Ordner des Lebens sucht das gute Fundament, den Fels, auf dem er bauen kann. Dies Fundament fand er nur äußerst selten in der Tradition; sie hat sich meist als trügerisch und nie als sehr dauerhaft erwiesen. Die großen Gestalter suchen ihre Formen nicht im Nebel der Vergangenheit, sondern loten nach dem wirklichen, tiefsten Schwerpunkt ihrer Zeit. Nur über ihm können sie ihre Formen aufrichten.

Das dunkle Wort Wahrheit erweckt in mir immer die physikalische Vorstellung des Schwerpunktes. Die Wahrheit bewegt sich stets, wandelbar wie der Schwerpunkt; sie ist immer irgendwo, nur niemals auf der Oberfläche, niemals im Vordergrund.

Wahrheit ist auch nie Erfüllung, Realität, künstlerische Gestalt, sondern das Primäre, der Gedanke, religionsgeschichtlich ausgedrückt: das „Wissen um das Heil“, das stets der Gestalt, d. i. der Kunst und der „Kultur“ vorausgeht.

35.

Der Tag wird nicht mehr fern sein, an dem den Europäer, — die wenigen Europäer, die es erst geben wird, — der große Schmerz seiner Gestaltlosigkeit überfallen wird. Dann werden diese Gepeinigten ihre Arme recken und Formsucher sein. Sie werden die neue Form nicht in der Vergangenheit suchen, auch nicht im Außen, in der stilisierten Fassade der Natur, sondern die Form von innen herausbauen nach ihrem neuen Wissen, das die alte Weltfabel in Weltformel, die alte Weltanschauung in Weltdurchschauung verwandelt hat.

Die kommende Kunst wird die Formwerdung unserer wissenschaftlichen Überzeugung sein; sie ist unsere Religion, unser Schwerpunkt, unsere Wahrheit. Sie ist tief und schwer genug, um die größte Formgestaltung, Formumgestaltung zu bringen, die die Welt erlebt hat.

38.

Wir stehen in einer viel zu erregten Zeit, wir selbst sind zu erregt, um die Bedeutung der Werke messen zu können, die die Pioniere der neuen Zeit bis heute geleistet haben. Wir suchen nur die feine Grenze zwischen dem Gestern und Morgen. Sie ist kein gerader Strich, wie ihn die Handlanger der Moderne mit skrupelloser Hurtigkeit ziehen wollen um ihre Jenseitigkeit zu zeigen, — wahrscheinlich, um sie nicht zu verpassen, da sie die einzige Stütze ihrer leidigen Gegenwart bildet.

Die Linie und Grenze, die wir sehen, schlingt sich in geheimnisvollen Kurven vielfach weit zurück in Vergangen- und Vergessenheit und noch weiter vor in Fernen, die unserem trüben Auge entrückt sind.

Gerade die neuen Europäer müssen die Selbstbeherrschung üben, kein Ärgernis zu nehmen an den Gräbern und Ruinen, zwischen denen sie leben und noch lange leben werden. Der Mensch lebt immer zwischen Gräbern, und an seiner Würde, mit der er sich zwischen ihnen bewegt, erkennen wir seine Zukunftsart.

39.

Der schaffende Mensch ehrt die Vergangenheit dadurch, daß er sie ruhen läßt und nicht von ihr lebt. Die Tragik unserer Väter ist es ja, daß sie wie Alchimisten Gold machen wollten aus ehrwürdigem Staub. Sie verloren ihr „Vermögen“ dabei. Sie durchwühlten so viele Kulturen, daß ihnen das naive Vermögen, eine eigene Kultur zu gestalten, verloren ging.

45.

Unser Geist ahnt heute schon, daß das Gewebe der Naturgesetze auch noch ein Dahinter, eine größere Einheit verbirgt: die Gestalt des einen Gesetzes statt der geheimnisvollen vielen, die heute für unser Auge die „neue Buntheit der Welt“ ausmachen.

Wir ahnen, daß das Gesetz der Schwerkraft immer ein Vordergrundsgesetz, eine Prämisse und Konzession an unsre noch beschränkte Ausdrucks- und Einsichtskraft ist; ebenso die Auseinanderlegung von Elementen- und Energienlehre oder die getrennte Betrachtung der Schwingungsgesetze.

Wenn einmal für alle diese Gesetze Eine Formel gefunden sein wird, — wir werden sie mit voller Sicherheit finden — werden wir vielleicht das dritte Gesicht haben.

55.

Unser uralter Wille, die trügerische Welt mit dem wahren Sein, dem „Jenseits“ zu vertauschen, kleidete früher dieses Jenseits künstlerisch in die Formen der sichtbaren Welt. Heute träumen wir nicht mehr eingeengt von den Dingen, sondern verneinen sie, da unser Wissen zu jenem Leben vorgedrungen ist, das sie verbergen.

Gott kam einst in einer Krippe „zur Welt“. Heute steht sie leer. Wir suchen die Formwerdung jenseits des heiligen Stalles in der visionären, in gesetzlichen Formen sichtbar gewordenen Natur.

Unser heute noch latentes Wissen wird sich morgen in formbildnerische Kraft wandeln.

70.

Auch die Wissenschaft ist nicht ein Ziel, sondern eine Art unseres Geistes.

78.

An die Stelle des Naturgesetzes als Kunstmittel setzen wir heute das religiöse Problem des neuen Inhalts. Die Kunst unsrer Epoche wird zweifellos tiefliegende Analogien mit der Kunst längstvergangener, primitiver Zeiten haben, freilich ohne die formalistische Annäherung an diese, die heute manche Archaisten sinnlos erstreben. Ebenso zweifellos wird unsrer Zeit eine andre Epoche kühler Reife folgen, die ihrerseits wieder formale Kunstgesetze (Traditionen) aufstellen wird, im Parallelismus des Geschehens, in sehr ferner, reifer, späteuropäischer Zeit.

79.

Den Menschen graut vor Leichen und Moder, — warum thut er so vertraut und gutmütig verliebt mit totem, faulendem Geist? Noch nicht die einfachsten Vorsichten und Reinlichkeitsvorschriften gegen Ansteckung und Seuche im geistigen Leben sind uns bekannt; die medizinischen Wissenschaften thuen gerade, als gäbe es nur „ihre“ Bazillen.

80.

Das geistige Kopfleben kennt dieselben Ansteckungsherde und Bazillenträger wie das Rumpfleben der physiologischen Welt, das nur das Paradigma des Geistes ist.

Mit listiger Verschlagenheit redet man aber immer von der Ansteckungsgefahr, die dem Neuen, Ungewohnten, der unbewohnten Zukunft anhaften soll, ein vielgeglaubter Satz der zurückstehenden, murmelnden Menge. Man frägt die Mediziner nicht einmal, wie unmöglich dieses sei und wie gewiß sein Gegenteil.

Nur in Zerfallsprodukten, in der Zersetzung des Alten lauert dem Geist Gefahr. Zwischen frischen, nackten, neuen Dingen ist noch kein Geist verseucht und erkrankt.

Wer lebt heute zwischen frischen Dingen?

Was ist Reinheit?

82.

Ich sah das Bild, das in den Augen des Teichhuhns sich bricht, wenn es untertaucht: die tausend Ringe, die jedes kleine Leben einfassen, das Blau der flüsternden Himmel, das der See trinkt, das verzückte Auftauchen an einem andern Ort, — erkennt, meine Freunde, was Bilder sind: das Auftauchen an einem andern Ort.

83.

Reinheit und Helle; befreit sie von der alten Fessel der Konsonanz.

Mit heißem Auge und feurigem Ohr durch die neuen Jagdgründe ziehen.

Das Aufblühen des Unbekannten.

85.

Im großen Krieg stand in irgend einer Stunde und Sekunde jedes Herz einmal, ein kleines einzigesmal ganz still, um dann mit leisem neuen Pochen wieder langsam aufzuhämmern der Zukunft entgegen.

Das war die heimliche Todesstunde der alten Zeit.

Was ist uns heute von allem, was in unserm Rücken liegt, noch heilig?

Niemand, niemand kann von nun an über die Blutlache des Krieges hinweg nach rückwärts und aus dem Rückwärts leben.

87.

Ich fing einen einsamen Gedanken, der sich wie ein Falter auf meine hohle Hand setzte: der Gedanke, daß schon einmal sehr frühe Menschen gelebt haben, die in unserem zweiten Gesicht standen und das Abstrakte liebten wie wir.

In unsern Völkermuseen hängt so manches Ding ganz verschwiegen und sieht uns mit seltsamen Augen an.

Wie waren solche Erzeugnisse eines reinen Willens zum Abstrakten möglich? Wie solche abstrakten Gedanken denkbar ohne unsre neuen Möglichkeiten des abstrakten Denkens?

Unser europäischer Wille zur abstrakten Form ist ja nichts anderes als unsre höchst bewußte, thatenheiße Erwiderung und Überwindung des sentimentalen Geistes. Jener frühe Mensch aber war dem Sentimentalen noch nicht begegnet, als er das Abstrakte liebte.

89.

So erscheint dem späten Denker das Abstrakte wieder als das natürliche Sehen, als das primäre, intuitive Gesicht, das Sentimentale aber als hysterische Erkrankung und Reduktion unsres geistigen Sehvermögens.

Alle hohen Völker und nicht zum wenigsten die Orientalen verfielen alternd dieser Krankheit.

Der Europäer als Arzt und Wiederverkünder alter Wahrheit —

Wie wir unser Problem auch wenden, es wird immer ernster, dringender.

90.

Wie schön, wie einzig tröstlich zu wissen, daß der Geist nicht sterben kann, unter keinen Qualen, durch keine Verleugnungen, in keinen Wüsten.

Dies zu wissen macht das Fortgehen leicht.

Ich singe mit Mombert:

„Nur einen Flügelschlag möcht ich thun,

Einen einzigen!“

Briefe an Frau Lisbeth Macke

Hagéville, 23. X. 1914.

Liebste Freundin,

gestern schrieb ich Dir in Unruhe um August eine Karte und heut schon schreibt mir Maria ganz traurig und verstört, daß wir ihn alle verloren haben. Ich bin so traurig und beklommen davon, daß Du es August’s und Deinem Freunde schon verzeihst, wenn ich Dir auf dieser kleinen Karte nicht mehr schreibe, als daß ich nun das Ärgste weiß; und mit Dir um ihn trauern werde, so lange ich noch lebe und male! Vergiß uns, Maria und mich, nicht über dem Leid. Wir haben ein Häuschen und möchten Kinder sehen und unsere Freundin bei uns, so oft Du nur magst. Was Dir die Deinen sind, können wir Dir gewiß nie sein — aber das andere, was Dir und uns allen dieser grausame Krieg geraubt und getötet hat, die Malerei von August, das Erbe seiner Ideen — dies Leben sollst Du bei uns weiterleben und pflegen, so oft und viel Du willst. Laß Dir die Wangen streicheln von

Deinem treuen Franz

Grüße Deinen Bruder! Geht es ihm doch gut?

Hagéville, 5. XI. 1914.

Liebe Lisbeth,

ich weiß nicht, ob dir jetzt ein paar Zeilen, so recht „nichts-sagende“ Zeilen lieb sind — aber ich möchte so gern mit dir reden, und wäre es nur, um Dir ein bißchen die Hand zu streicheln. Ich erhielt Deine traurige Karte mit der ungewissen Nachricht über den armen August, ich wußte inzwischen schon durch Maria und Koehler, daß doch noch eine kleine Ecke Hoffnung besteht, ihn wiederzusehen, — möchte es doch sein! An französische Grausamkeiten und mangelnde Pflege glaube ich absolut nicht. Die gewissenlose Kopflosigkeit, die in dieser Beziehung im Anfang des Krieges herrschte — übrigens auch bei uns, ich war in Saales selbst Zeuge — ist längst einer strafferen Disziplin und auch reiferen, männlicheren Überlegung gewichen; es wird bei den Franzosen nicht anders sein. Der Postverkehr ist andrerseits so gänzlich abgeschnitten, daß er vielleicht wirklich keine Nachricht geben kann, vor allem, wenn er in einem Feldlazarett liegt. Ich erhalte mir wenigstens immer noch ein bißchen Hoffnung und hoffe, Du thust es auch, liebe, arme Freundin. Ich denke jetzt so oft an Dich, an alle Einzelheiten unsrer lieben, gemeinsamen Erinnerungen, an August’s Atelier und was aus unsrer Freundschaft und gemeinsamen Arbeit noch hätte werden können!

Was mich für Dich tröstet, ist, daß Du wenigstens die beiden, lieben Buben von ihm hast, in denen der August immer lebendig bleibt. Was mir den Abschied von Maria schwer machte, war gerade der schwermütige Gedanke, daß ich sie ganz allein zurücklasse, wenn ich nicht wiederkomme, ohne jede Zukunft und Aufgabe. Im Felde fürchtet man den Tod ja gar nicht. Man streift ihn so oft, man geht zwischen all dem fürchterlichen Sterben schließlich ganz kühl umher; aber, der Gedanke, kein Kindchen, keinen Erben des Blutes, das man sterbend vergießt, zurückzulassen, ist für mich das Einzige ganz Traurige. Ich bin ja im allgemeinen wenig exponiert und glaube mit keinem Gedanken, nicht zurückzukehren; aber ebenso felsenfest hab ich an August’s Stern geglaubt und doch schimmert er jetzt so trübe, daß man verzweifeln möchte. Nichts hat mich in diesem Kriege so erschüttert und deprimiert als diese Nachricht. Sie quält mich oft des Nachts und taucht zwischen ganz anderen Gedanken immer wieder auf, daß ich erst jetzt ganz schwer fühle, was ich und wir alle an ihm verlieren würden. —

Wir arbeiten immer noch an der Reorganisation unserer Truppe und vor allem unseres Pferdematerials, das in einem trostlosen Zustand aus den Vogesenkämpfen kam; unsere ganze Division ist aus dem Gefecht gezogen; ich hab viel ruhige Stunden für mich und arbeite für mich an meinen Gedanken, die der Krieg in ganz neue Bahnen getrieben hat. Wen werde ich finden, mit dem ich über das alles reden kann, wenn ich August nicht mehr habe? Du kannst es mit noch größerem Recht sagen, aber was Dir Freunde sein können, das sollst und wirst Du an uns finden. Grüße Deinen lieben Bruder vielmals von mir; ich freu mich riesig, daß er sich wenigstens gut erholt, grüße auch herzlich Deine Angehörigen und laß Dir einen Freundeskuß geben von Deinem treuen

Franz.

Bertschweiler, Südvogesen
7. I. 1915

Liebe Lisbeth,

Deine freundschaftliche, resignierte und doch so tapfere Karte vom 22. XII. hab ich erst heute erhalten, zugleich mit einigen Briefen von Koehler, der mir von seinem melancholischen Besuch bei Euch erzählte und auch die näheren Umstände von August’s Tode schilderte. Nun sind wir wirklich allein, ohne unseren August, Du und Koehler und ich, und mit uns viele andere. Wir wollen uns tapfer die Hand geben in seinem Gedächtnis und versuchen, so viel wir nur können in unser Leben davon umzusetzen, Du mit Deinen Kindern in Dein Leben, ich in meine Malerei. Vielleicht (ich hoffe es sehr) können wir uns dabei manchmal gegenseitig helfen. Maria und ich Dir, wenn Du zuweilen zu uns kommst, und Du wieder bei uns in die Atmosphäre der Malerei rückst, die Dir Deine Familie nicht geben kann. Daß sich in Ried leben läßt, in unserem Häuschen, kannst Du mir schon glauben, vor allem auch für die Kinder. Und von Dir möchte ich noch viel über August hören und erfahren, vor allem über seine Ideen der letzten Zeit. Ich rede schon, als wenn schon bald Friede wäre und dabei krachen draußen, 200 mtr. weit unsere Geschütze! Wir sind seit dem 26. Dez. wieder im Gefecht (westlich Mühlhausen). Statt des erhofften Soldatenweihnachten in Mühlhausen, verbrachten wir die ganze Weihnachtsnacht am Pferd!

Einmal muß dieser Krieg ja ein Ende nehmen, erst im Osten, dann im Westen. Man vertröstet sich von einer Jahreszeit auf die andere!

Von Helmut hab ich die letzte Nachricht vom 6. Dez. Hoffentlich bewahrt ihn ein gutes Schicksal, freilich ist er sehr gefährdet da oben und als Infanterist doppelt und zehnfach.

Willst Du mir einmal eine Freude machen? Schick mir doch eine kleine Photographie von Wolfgang, wenn Du eine hast, (am liebsten unaufgezogen). Koehler schreibt, er habe solche Ähnlichkeit mit August. Gib Walterchen und dem Kleinen einen herzhaften Kuß von mir und nimm Du auch einen von Deinem treuen

Franz Marc.

29. I. 1915.

Liebe Lisbeth,

wie hat mich Dein guter Brief gefreut! Du lebst und fühlst so sehr im Ganzen und Vollen mit uns allen draußen, daß Dir jeder Soldat dankbar die Hand drücken möchte, auch wenn er nichts von Deinem besonderen Leide weiß, das Dein Leben für immer in das Schicksal dieses Krieges verflochten hat. Ich liebe heute alle Menschen, deren Herzen mit unserm Leben und mit dem Schicksalswillen dieses Krieges mitzittern. Es gibt merkwürdigerweise doch auch viele, die ängstlich alles meiden, was ihre Seele in den Krieg hineinziehen könnte, die „Neutralen“ im Lande!

Es freut mich, daß Du aus meinem schlichten Nachruf die Liebe und Verehrung herausfühlst, mit der ich ihn seiner Zeit in dem melancholischen Hagéville geschrieben habe. Deine Idee, ihn neben dem Feldpostbrief von Dr. Samuel zu bringen, ist sehr glücklich. Ein solcher Nachruf steht natürlich so völlig außerhalb der kleinen Kunstpolemik vor dem Kriege, daß ich selbstredend gar nichts gegen seinen Abdruck in „Kunst und Künstler“ habe. Bestimme Du mit Maria vollkommen darüber, wo Ihr ihn bringen wollt. (Ich schrieb Maria auch, daß ich mit K. und K. gerne einverstanden bin, — vielleicht übernimmst Du im gegebenen Fall die Korrespondenz mit Scheffler.) Mein einziger Wunsch ist, daß er Dir und unserm Freundeskreis von August’s Wert und unserer gemeinsamen Liebe erzählen soll.

Hörst Du etwas von Helmuth? Ich habe seit dem 6ten Dez. keine Nachricht mehr von ihm und bin etwas in Sorge. Schreib mir doch, wenn Du etwas über ihn hörst. Herr Koehler schrieb mir sehr treu und lebendig von seinem Besuch bei Euch, es waren wehmütige und aufregende Tage für ihn, er leidet furchtbar unter dem Tod seines jungen, liebsten Freundes. Ich denke auch daran, wie wehmütig mich ein Besuch in Eurem lieben Häuschen machen würde und doch möchte ich so gern einmal, noch einmal August’s Atelier sehen, seine letzten Arbeiten und den kleinen Wolfgang kennen lernen. Wann wird das alles einmal sein? Und wie wird es dann in Europa aussehen? und in unsern Herzen! Auch ich komme nicht mehr ganz als derselbe zurück. Der Krieg hat mein ganzes Denken wie im Sturm durchschüttelt.

Ach ja, die vergnügten Glasbildchen, die sehen jetzt auch gewiß melancholisch und ernst drein — so verändern sich die Dinge!!

Leb wohl und bleib so mutig und lebensvoll wie wir Dich immer kannten und wie Dich Deine Briefe zeigen. Grüße herzlich Deine ganze Familie; wenn Du einmal Dr. Samuel schreibst, füge bitte einen kameradschaftlichen Gruß von mir bei. —

Weißt Du, was mir gerade einfällt? ein Zukunftsbild: die erste Begegnung Deiner beiden Buben mit den zwei Niestlé’schen Mädchen — auf solche köstlichen Augenblicke, die doch kommen werden, freu ich mich!

Von Herzen Dein Franz Marc.

22. II. 15.

Liebe Lisbeth,

umstehend die von der Redaktion erbetene Autorisation zum Abdruck. Maria schrieb mir, daß sie etwas animos bei Dir angefragt hat; ich hatte die Geschichte mit Herrn Scheffler so komplett vergessen, daß mir letzthin gar nicht recht klar wurde, worin eigentlich die Spannung zwischen mir und der Redaktion bestehe. Jetzt erinnerte ich mich plötzlich an alles, und wundere mich auch nicht über die Anfrage. Vive la bagatelle! Meine Gedanken sind heute wo ganz anders — es ist alles so lange lange her, als wären’s Jahre.

Auf Deinen lieben letzten Brief antwortete ich Dir kurz, tags darauf kam dann Dein gutes Schokoladepaketchen, schönen Dank! Bleibt alle gesund, Ihr lieben Drei. Mit herzlichem Händedruck

Dein
Franz Marc.

12. V. 1915.

Liebe Lisbeth,

Dank für Deinen langen guten Brief; ja, in Müllheim mußte ich soviel an August und Dich denken; ich kam sehr erschöpft nach einem langen 40 klm Ritt am Bahnhof an, band mein Pferd an einen Laternenpfahl und ruhte mich in der Gartenwirtschaft am Bahnhof aus — da mußte ich so an Euch denken. Ich blieb dann in M. übernacht und ritt am andern Tag etwas schweren Herzens zurück. Ich trennte mich so ungern vom Schwarzwald, der mir so deutsch und heimisch schien. Es kostete mich wirklich einen Entschluß wieder über den Rhein zurück nach Westen zu reiten! Wann werden wir wieder friedlich über den Rhein zurückkehren dürfen?! Daß Maria sich jetzt entschließt, Euch in Bonn zu besuchen, glaube ich nicht sehr; erstens bekommt unser liebes kleines Reh demnächst Junge — auch eine Sorge; man kann das Tierchen doch nicht in solchen Tagen verlassen und fremden Händen anvertrauen; dann die Gartenbestellung und manches andere, ich glaube, Maria wird sich jetzt schwer von Ried trennen. Wenn Du mit den Kindern die Reise nicht wagst und lieber einmal einen kurzen Besuch allein machst, wirst Du Maria und mir auch eine große Freude machen; und ich hoffe so sehr, daß er für Dich selbst eine kleine seelische Erholung wäre —.

Mein Mißverständnis Deiner Frage betreff * * * ist lustig; ich wunderte mich selbst im Stillen, aber konnte die eine Stelle Deines Briefes nicht anders verstehen; wahrscheinlich bezog sie sich auf eine Ausstellung bei * * *. Ich kann Dir schwer raten in dieser Sache. Außer * * * käme eine Wanderausstellung durch die Kunstvereine in Betracht. Dafür müßte sich von vornherein eine richtige und gewichtige Persönlichkeit einsetzen; vielleicht ausgehend vom Frankfurter Kunstverein. Die Ausstellung könnte trotzdem die Bezeichnung „Von seinen Freunden veranstaltet“ tragen. Ich schreibe gern ein paar Freundesworte als Vorwort im Katalog, vielleicht in Verwertung und Überarbeitung meines kleinen Nachrufes. Die Koehlergalerie, als Berliner Ausstellungsort, halte ich für nicht ganz glücklich — es würden zu wenige hingehen. Ich schlug schon einmal Koehler vor, ein Gedächtniszimmer für August’s Kunst in seiner Galerie einzurichten, das immer bliebe und mit aller Liebe und Sorgfalt ausgestattet sein müßte (auch mit Stickerein, Glasbildern und dergleichen, Koehler hat ja daran schon prächtige Stücke). Ein solches Zimmer würde die Intimität der ganzen Sammlung vertiefen und ein dauerndes Denkmal für August sein. Aber die geplante Gedächtnisausstellung ganz auf privatem Wege zu leiten, ist kein glücklicher Gedanke. Man kann dabei in den meisten Fällen die Räumlichkeiten von Händlern doch nicht umgehen oder es würde ein unverschämtes Geld kosten, das in keinem Verhältnis zum Zwecke der Sache stehen würde. Ich geb Dir den einen Rat: warte; jetzt ist nicht die freudige und gesammelte Stimmung für ein solches Unternehmen. August’s Bilder bleiben immer jung, — nichts, was Wert hat, hat Eile; im Gegenteil: das Gute verlangt Distanz und wird immer besser.

Schreibe mir nur mal wieder; ich freu mich immer so, wenn aus dem großen Feldpostsack ein Brief mit Deiner Handschrift herausfällt. Seid alle herzlich gegrüßt, auch Deine liebe, verehrte Mutter und Großmutter und W. Gerhardt mit Frau.

Dein Franz Marc.

6. VIII. 1915.

Liebe Lisbeth,

jetzt ist wohl bald der Jahrestag, an dem Du von August für immer Abschied genommen hast — rückte er damals gleich ab? Und nun liegt Helmuth verwundet — hast Du nähere Nachrichten? er schrieb mir wenige Tage nach seiner Verwundung aus dem Feldlazarett 4. 50. Inf.-Div. Westen; ich schrieb ihm sofort wieder (18. Juli) habe aber seitdem keine Antwort, was mich etwas beunruhigt. Es war ein Granatsplitter im Hinterkopf. Er schrieb kurz nach der Operation, die glücklich verlaufen sein soll; aber, weiß Gott was hinterher kam; mich beängstigt sein Schweigen jedenfalls. Denn gerade im Lazarett ist man schreiblustig, wenn es einem gut geht. Gib mir bitte Nachricht, was Du über Helmuth weißt und besuche ihn ja, wenn das Lazarett für Zivilpersonen erreichbar ist. Es ist ja auch die Frage, ob er dort geblieben ist. Wie gehts Euch allen; wo ist Dein Bruder? Grüß alle von mir und laß Dir die Hand drücken

von Deinem
Franz.

5. X. 15.

Meine liebe, gute Lisbeth,

wie lieb von Dir, immer wieder so freundlich meiner zu gedenken; ich bin sehr schreibeunlustig geworden — die Welt, die Arbeit und die Liebe, alles rückt so traumhaft fern in diesem endlosen lieblosen Kriege!! Ich schrieb in den letzten Monaten fast nur mehr Maria und meiner Mutter, aber meine Gedanken irren eigentlich in einem nirgendwo, unstät, unproduktiv, voll Haß gegen diesen Krieg; und was mir diesen Zustand besonders unheimlich macht: ich werde ein immer besserer — Soldat! Ich kenne mich oft nicht wieder; wir Männer sind ein merkwürdiges Geschlecht. Der Krieg vermännlicht uns leider noch mehr, ich kann mir Euch Frauen kaum mehr vorstellen; und daß es Kinder gibt und Kinderleben! — Wie mag es dem armen Helmuth ergehen? Er ist in gefährlichster Nähe der großen Offensive. Ich selbst kann über nichts klagen; ich bin jetzt Offizierstellvertreter und werde in Bälde Offizier sein; das erleichtert natürlich mein Leben äußerlich sehr, aber die geistige Luft, in der ich nur mühsam atme, wird dadurch nur noch „dicker“. Dabei „genieße“ ich den unbestrittenen Ruf eines „vorzüglichen“ Soldaten. Ich bin es sogar. — Das ist das Groteske meines jetzigen Lebens.

Sei nicht ungehalten und erschrocken, daß ich Dir nichts lieberes, ruhigeres zu sagen habe; ich möchte Dein liebes Gesicht streicheln und Wolfgängchen auf den Knien haben; hoffentlich kommen für uns Männer auch solche Zeiten wieder, nach diesen Jahren des gemeinsten Menschenfangs, dem wir uns ergeben haben. Wie haltet Ihr Frauen eigentlich diese tolle Epoche aus? Das frag ich mich oft. Du Ärmste hast das größte Opfer gebracht, — Deine Ruhe kann ich verstehen — aber so viele andere?? Maria leidet sehr bitterlich und ich wage ihr kaum zu sagen wie gut ich sie dabei verstehe, um ihre Seele nicht noch mehr gegen diesen Krieg aufzubringen. Das soll nun ein Brief an Dich sein!! Verzeih mir ihn. Ich bin zu keinem anderen fähig.

Mit herzlichem Händedruck

Dein Franz.

23. XII. 15.

Liebe Lisbeth,

was für einen netten Weihnachtsgruß hast Du mir wieder geschickt! Dank für alle Deine Liebe, die so schön aus Deinen guten Briefen und Sendungen spricht. Ich verstehe gut, daß Dir die Weihnachtstage mehr Qual und Wehmut bringen als Freude, — wenn Dir nicht die strahlenden Gesichter von Walterchen und Wolfgang alles Weh überstrahlen. Ich habe zuweilen eine wahre Sehnsucht nach diesen beiden kleinen Buben, ähnlich wie zu den Kinderchen von Legros, die mich in meinem Urlaub kürzlich so gefreut haben. Ihr Beide habt wirklich ein Lebenspfand in der Hand, das manchen tiefen Schmerz aufwiegen kann. Maria zeigte mir eine Photographie von Walterchen und Wolfgang — ich war ganz ergriffen von der Schönheit von Walterchen, und Wolfgang, der noch zu vögelchenhaft klein ist zur Schönheit, hat ein so lieblich sanftes Kindergesicht! Es werden schon wieder gute Stunden kommen, in denen wir um den runden Kirschbaumtisch sitzen und Glasbilder pinseln — dann muß eben Walterchen auf August’s Stuhl sitzen und mitmachen.

Maria schrieb mir davon, daß sie von Dir aufgefordert wurde nach Bonn zu kommen; ich glaub, sie scheut etwas die Reisekosten, obwohl wir jetzt gar nicht besonders unsicher mit dem Gelde stehen; ich werde ihr zureden und ihr wenigstens diesen Hinderungsgrund etwas ausreden, aber vielleicht hält sie auch anderes zurück, — die Sorge das Haus zu lang allein zu lassen, und vielleicht auch der Gedanke Dir keine aufmunternde und heilsame Gesellschaft zu sein, da sie jetzt sehr schwarzseherisch und melancholisch gestimmt ist; ich freu mich jedenfalls, wenn sie Dich besucht, aber ich dränge in diesen Fragen zu nichts. Aber das hoffe ich heute schon: daß wir Dich mit Deinen beiden Bübchen nach dem Krieg zuweilen bei uns sehen!

Grüße Moilliet, ich gratuliere herzlich zu seinen Erfolgen; hoffentlich ziehen sie andere nach sich, wie es doch meist ist.

Wir sind ganz unerwartet in Armeereserve für circa einen Monat zurückgezogen worden und können unseren Soldaten morgen ein ganz gemütliches Weihnachten richten. Grüße Deine Lieben alle recht herzlich von mir; gib Walter und Wolfgang einen Kuß von ihrem Onkel. In herzlicher Liebe

Dein
Franz Marc.

Der Spitzweg ist reizend! dies köstlich törichte Einst und dies sinnlos grauenvolle Jetzt!

Hagéville, 25. X. 14.

August Macke †.

Das Blutopfer, das die erregte Natur den Völkern in großen Kriegen abfordert, bringen diese in tragischer, reueloser Begeisterung.

Die Gesamtheit reicht sich in Treue die Hände und trägt stolz, unter Siegesklängen den Verlust.

Der Einzelne, dem der Krieg das liebste Menschengut gemordet hat, würgt in der Stille die Thränen hinunter; der Jammer kriecht wie der Schatten hinter den Mauern. Das Licht der Öffentlichkeit kann und soll ihn nicht sehen; denn die Gesundheit des Ganzen will es so.

Aber die große Rechnung des Krieges ist mit alledem nicht beglichen. Das grausame Ende kommt schleichend, langsam, sicher nach, in Zeiten, in denen der Quell des Leides nur mehr langsam rinnt.

Dieses Furchtbare ist der Zufall des Einzeltodes, der mit jeder tötlichen Kugel das spätere Geschick des Volkes unerbittlich bestimmt und verschiebt. Im Kriege sind wir alle gleich. Aber unter tausend Braven trifft eine Kugel einen Unersetzlichen. Mit seinem Tode wird der Kultur eines Volkes eine Hand abgeschlagen, ein Auge blind gemacht. Wieviele und schreckliche Verstümmelungen mag dieser grausame Krieg unsrer zukünftigen Kultur gebracht haben? Wie mancher junge Geist mag gemordet sein, den wir nicht kannten und der unsre Zukunft in sich trug.

Und manchen kannten wir gut, ach nur zu gut! —

August Macke, der „junge Macke“ ist tot.

Wer sich in diesen letzten, ereignisvollen Jahren um die neue deutsche Kunst gesorgt hat, wer etwas von unsrer künstlerischen Zukunft ahnte, der kannte Macke. Und die mit ihm arbeiteten, wir, seine Freunde, wir wußten, welche heimliche Zukunft dieser geniale Mensch in sich trug. Mit seinem Tode knickt eine der schönsten und kühnsten Kurven unsrer deutschen, künstlerischen Entwicklung jäh ab; keiner von uns ist imstande, sie fortzuführen. Jeder zieht seine eigene Bahn; und wo wir uns begegnen werden, wird er immer fehlen.

Wir Maler wissen gut, daß mit dem Ausscheiden seiner Harmonien die Farbe in der deutschen Kunst um mehrere Tonfolgen verblassen muß und einen stumpferen, trockneren Klang bekommen wird. Er hat vor uns allen der Farbe den hellsten und reinsten Klang gegeben, so klar und hell wie sein ganzes Wesen war. Gewiß ahnt das Deutschland von heute nicht, was alles es diesem jungen, toten Maler schon verdankt, wieviel er gewirkt und wieviel ihm geglückt ist. Alles, was seine geschickten Hände anfaßten und wer ihm nahe kam, wurde lebendig, jede Materie und am meisten die Menschen, die er magisch in den Bann seiner Ideen zog. Wieviel verdanken wir Maler in Deutschland ihm! Was er nach außen gesät, wird noch Frucht tragen und wir als seine Freunde wollen sorgen, daß sie nicht heimlich bleibt.

Aber sein Werk ist abgebrochen, trostlos, ohne Wiederkehr. Der gierige Krieg ist um einen Heldentod reicher, aber die deutsche Kunst um einen Helden ärmer geworden.

Franz Marc.

Das Buch enthält Franz Marcs Briefe aus dem Felde, Tagebuch-Aufzeichnungen und Aphorismen. Der Tafelband stellt die originalgetreue Wiedergabe des letzten Skizzenbuches aus dem Felde in Lichtdruck dar. Der Textband der vorliegenden Ausgabe wurde im Jahre 1920 in der Offizin W. Drugulin in Leipzig gedruckt. Er enthält, gleichfalls in Lichtdruck, eine farbige Beilage nach dem Aquarell „Tierschicksale“ von Franz Marc. Eine Vorzugsausgabe mit weiteren fünf farbigen Lichtdrucken nach Zeichnungen von Franz Marc wurde in 320 in der Presse numerierten Exemplaren, von denen 300 in den Handel kommen, auf Büttenpapier gedruckt und in Halbleder gebunden

Anmerkungen zur Transkription

Die Schreibweise der französischen Ortsnamen wurde stillschweigend normalisiert. Lediglich Sâles wurde auch in der häufig wiederkehrenden Form Saales belassen. Hierzu ist anzumerken, daß Marc gelegentlich den Ort Berrweiler als Bertschweiler nennt, was vermutlich falsch ist.

Variationen der Schreibweise von Namen, die für den Autor typische Schreibweise gewisser Worte (z. B. tötlich, blos) sowie das Weglassen des Genitiv-s in zusammengesetzten Worten (z. B. frühlinghaft, Garnisondienst) wurden unverändert übernommen.

Offensichtliche Fehler wurden korrigiert wie hier aufgeführt (vorher/nachher):






End of the Project Gutenberg EBook of Briefe, Aufzeichnungen und Aphorismen.
Erster Band, by Franz Marc

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1.F.4. Except for the limited right of replacement or refund set forth
in paragraph 1.F.3, this work is provided to you 'AS-IS', WITH NO
OTHER WARRANTIES OF ANY KIND, EXPRESS OR IMPLIED, INCLUDING BUT NOT
LIMITED TO WARRANTIES OF MERCHANTABILITY OR FITNESS FOR ANY PURPOSE.

1.F.5. Some states do not allow disclaimers of certain implied
warranties or the exclusion or limitation of certain types of
damages. If any disclaimer or limitation set forth in this agreement
violates the law of the state applicable to this agreement, the
agreement shall be interpreted to make the maximum disclaimer or
limitation permitted by the applicable state law. The invalidity or
unenforceability of any provision of this agreement shall not void the
remaining provisions.

1.F.6. INDEMNITY - You agree to indemnify and hold the Foundation, the
trademark owner, any agent or employee of the Foundation, anyone
providing copies of Project Gutenberg-tm electronic works in
accordance with this agreement, and any volunteers associated with the
production, promotion and distribution of Project Gutenberg-tm
electronic works, harmless from all liability, costs and expenses,
including legal fees, that arise directly or indirectly from any of
the following which you do or cause to occur: (a) distribution of this
or any Project Gutenberg-tm work, (b) alteration, modification, or
additions or deletions to any Project Gutenberg-tm work, and (c) any
Defect you cause.

Section 2. Information about the Mission of Project Gutenberg-tm

Project Gutenberg-tm is synonymous with the free distribution of
electronic works in formats readable by the widest variety of
computers including obsolete, old, middle-aged and new computers. It
exists because of the efforts of hundreds of volunteers and donations
from people in all walks of life.

Volunteers and financial support to provide volunteers with the
assistance they need are critical to reaching Project Gutenberg-tm's
goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will
remain freely available for generations to come. In 2001, the Project
Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
and permanent future for Project Gutenberg-tm and future
generations. To learn more about the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation and how your efforts and donations can help, see
Sections 3 and 4 and the Foundation information page at
www.gutenberg.org



Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation

The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit
501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
Revenue Service. The Foundation's EIN or federal tax identification
number is 64-6221541. Contributions to the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation are tax deductible to the full extent permitted by
U.S. federal laws and your state's laws.

The Foundation's principal office is in Fairbanks, Alaska, with the
mailing address: PO Box 750175, Fairbanks, AK 99775, but its
volunteers and employees are scattered throughout numerous
locations. Its business office is located at 809 North 1500 West, Salt
Lake City, UT 84116, (801) 596-1887. Email contact links and up to
date contact information can be found at the Foundation's web site and
official page at www.gutenberg.org/contact

For additional contact information:

    Dr. Gregory B. Newby
    Chief Executive and Director
    gbnewby@pglaf.org

Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg
Literary Archive Foundation

Project Gutenberg-tm depends upon and cannot survive without wide
spread public support and donations to carry out its mission of
increasing the number of public domain and licensed works that can be
freely distributed in machine readable form accessible by the widest
array of equipment including outdated equipment. Many small donations
($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt
status with the IRS.

The Foundation is committed to complying with the laws regulating
charities and charitable donations in all 50 states of the United
States. Compliance requirements are not uniform and it takes a
considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
with these requirements. We do not solicit donations in locations
where we have not received written confirmation of compliance. To SEND
DONATIONS or determine the status of compliance for any particular
state visit www.gutenberg.org/donate

While we cannot and do not solicit contributions from states where we
have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition
against accepting unsolicited donations from donors in such states who
approach us with offers to donate.

International donations are gratefully accepted, but we cannot make
any statements concerning tax treatment of donations received from
outside the United States. U.S. laws alone swamp our small staff.

Please check the Project Gutenberg Web pages for current donation
methods and addresses. Donations are accepted in a number of other
ways including checks, online payments and credit card donations. To
donate, please visit: www.gutenberg.org/donate

Section 5. General Information About Project Gutenberg-tm electronic works.

Professor Michael S. Hart was the originator of the Project
Gutenberg-tm concept of a library of electronic works that could be
freely shared with anyone. For forty years, he produced and
distributed Project Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of
volunteer support.

Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed
editions, all of which are confirmed as not protected by copyright in
the U.S. unless a copyright notice is included. Thus, we do not
necessarily keep eBooks in compliance with any particular paper
edition.

Most people start at our Web site which has the main PG search
facility: www.gutenberg.org

This Web site includes information about Project Gutenberg-tm,
including how to make donations to the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to
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